Delegation aus der Diözese Hildesheim besucht Bolivien
„Den Schrei der Erde hören“
Eine Partnerschaft verbindet seit mehr als drei Jahrzehnten das Bistum Hildesheim und die Kirche Boliviens. Jetzt hat eine fünfköpfige Delegation aus der Diözese das südamerikanische Land besucht. Bischof Heiner Wilmer, Rat Christian Hennecke, Leiter des Bereichs Sendung, und Dietmar Müßig, Leiter des Teams Weltkirche, ziehen im Gespräch eine Bilanz der Reise.
Herr Bischof, Sie waren fast drei Wochen in Bolivien, haben diverse Städte und Einrichtungen besucht und unterschiedliche Menschen getroffen. Was hat Sie am meisten beeindruckt?
Wilmer: Mich haben am meisten die Menschen beeindruckt, ihre Gesichter, die Vielfalt der unterschiedlichen Kulturen. Fasziniert hat mich die Gastfreundschaft der Menschen, ihre große Herzlichkeit, die Offenheit, die Neugierde, das Interesse an uns. Ich war sehr berührt, wie viel den Menschen in Bolivien die „Hermandad“ bedeutet, die deutlich mehr ist als eine Partnerschaft. Es ist eine Bruderschaft, wie auch das spanische Wort sagt. Heute würden wir von einer geschwisterlichen Vereinigung sprechen. Wir müssen im Bistum die Intensität der Partnerschaft überprüfen und erneuern.
In Ihrem Reisebericht – zu lesen auf der Homepage des Bistums – haben Sie geschrieben, dass Sie viele Ideen für die Vertiefung der Partnerschaft mitgebracht haben. Welche sind das?
Hennecke: Die Überlegungen dazu haben schon vor der Reise begonnen. Zu Corona-Zeiten haben wir in einer Online-Konferenz mit unseren Partnern darüber gesprochen, wie unser gemeinsamer Weg weiter gehen soll. Drei Themen haben wir dabei in den Blick genommen: Da sind zunächst die Freiwilligendienste. Wir wollen die Zahl der jungen Menschen, die aus dem Bistum Hildesheim nach Bolivien gehen, von derzeit drei auf zehn erhöhen. Auch die Zahl derjenigen, die aus dem südamerikanischen Land zu uns kommen, würden wir gern steigern. Allerdings hängt dies davon ab, ob sich genügend Gruppen und Menschen finden, die diese Freiwilligen begleiten. Es geht aber nicht nur um eine quantitative Ausweitung der Dienste, sondern auch um eine qualitative. Wir wollen die Einsatzstellen der jungen Menschen stärker an ihr Profil anpassen und sie so auf ihrem Lebens- und Glaubensweg begleiten. Außerdem wollen wir den Kreis der ehemaligen Freiwilligen stärken und damit ein Netzwerk junger Erwachsener weiter entwickeln. Zum Zweiten möchten wir gern die Fragen der Nachhaltigkeit, der Bewahrung der Schöpfung und des Lebensstils in den Fokus unserer Partnerschaftsarbeit rücken. Schließlich geht es darum, wie wir den Radius der Partnerschaft erweitern können, wie es gelingen kann, auch Einrichtungen und Institutionen außerhalb des innerkirchlichen Bereichs in die Partnerschaft einzubeziehen, beispielsweise Universitäten.
Wilmer: Ich möchte noch einen Punkt ergänzen: Wir denken über eine stärkere personelle Präsenz unseres Bistums in Bolivien nach. Wir möchten, dass jemand für einen bestimmten Zeitraum Anwalt, Anwältin für bestimmte Projekte wird. Wir wollen Maßnahmen mit Menschen, mit Gesichtern verbinden. Es darf nicht nur darum gehen, Geld für ein anonymes Projekt auszuschütten.
Sie sprachen gerade das Thema Bewahrung der Schöpfung an. Der Abbau von Rohstoffen führt in dem Land zu erheblichen Umweltschäden. Auch Deutschland importiert beispielsweise Lithium, das zur Produktion von Elektroautos benötigt wird, aus Bolivien. Ist das überhaupt vertretbar?
Müßig: Egal, ob es um Silber-, Gold- oder Lithiumförderung geht, der Abbau ist in der Tat mit massiven Umweltschäden verbunden. Die Industrienationen, die auf die Rohstoffe angewiesen sind, aber auch viele Akteure vor Ort, nehmen keine Rücksicht auf Umwelt und Arbeitsbedigungen. Die Menschen vor Ort wissen zum Teil gar nicht, welche Folgen die Förderung hat und sind wirtschaftlich dermaßen davon abhängig, dass sie sich nicht wehren können. Da für mehr Gerechtigkeit im internationalen Welthandel zu sorgen – Stichwort Lieferkettengesetz – wäre überaus sinnvoll. Wir müssen uns zum Anwalt der Partnerinnen und Partner in Bolivien machen. Und wir müssen uns dafür stark machen, dass bei der Förderung Technologien zum Einsatz kommen, die weniger schädlich sind für Mensch und Umwelt.
Hennecke: Es ist ein Grundproblem, dass es in Bolivien keine weiterverarbeitende Industrie gibt, sondern nur Rohstoffe, die zugunsten der großen Industrienationen ausgebeutet werden. Die Bolivianer sind auf diese Einnahmen angewiesen. Und der Staat in Bolivien versäumt es, hier nachhaltige Industrien aufzubauen. Außerdem: Eine Energiewende ohne Elektroenergie, die man speichern kann, ist schwierig. Wir bewegen uns also in sehr komplexen Zusammenhängen. Wichtig ist, dass wir mit den Menschen vor Ort sprechen und uns so weit wie möglich für menschenwürdige Arbeitsbedingungen und den Schutz der Umwelt einsetzen.
Wo wir schon bei komplizierten Themen sind: Sie haben in ihrem Bericht geschrieben, der Versuch der Vereinten Nationen, Kinderarbeit auszurotten, sei zwar gut gemeint, gehe aber an der Realität der Familien vorbei. Das müssen Sie erklären.
Müßig: Die UNO hat Druck auf die bolivianische Regierung ausgeübt, die daraufhin die Kinderarbeit verboten hat. Kinderarbeit gibt es aber dennoch, weil viele Familien darauf angewiesen sind und sonst nicht über die Runden kommen. Wir haben ein Caritas-Projekt besucht, das arbeitende Kinder und Jugendliche darin unterstützt, sich selbst zu organisieren. Diese Kinder kämpfen dafür, arbeiten zu dürfen – aber auf einer gesetzlichen Grundlage, die ihnen garantiert, dass sie nicht in die Illegalität abgedrängt werden und andererseits die Möglichkeit haben, am Nachmittag die Schule zu besuchen.
Wilmer: Es geht um Arbeit in Maßen unter der Bedingung, dass die Kinder zur Schule gehen können. Es ist einfach, von der Ferne Gesetze zu erlassen und die Situation der Betroffenen nicht zu kennen. Wir stehen in der Versuchung zu sagen, unsere Standards müssen überall gelten. Das ist aber nicht so einfach, wenn man die konkrete Lage anschaut. Dazu zwei Zahlen: Der durchschnittliche bolivianische Arbeitnehmer verdient 300 Dollar im Monat. Außerdem arbeiten 83 Prozent der Bolivianerinnen und Bolivianer in sogenannter informeller Arbeit, das heißt, sie haben keinerlei Verträge und sind auch nicht sozialversichert.
Welche Erfahrungen aus Bolivien lassen sich auf das Bistum Hildesheim übertragen?
Hennecke: Wir haben hier eine andere gesellschaftliche Situation, aber die Grundfragen sind sehr ähnlich. Haltungsfragen, spirituelle Fragen, Fragen meines Lebensstils. Letztendlich geht es um darum: Wie können wir gemeinsam mit unseren bolivianischen Freundinnen und Freunden einen spirituell verwurzelten und nachhaltigen Lebensstil lernen – und was können wir von der Spiritualität, etwa von der indigenen Religiosität der Menschen dort für uns lernen? Ich sehe hier einen starken Anknüpfungspunkt zum Thema Ökologie. Wir leben wirklich in einem „gemeinsamen Haus“ (Papst Franziskus). In Bolivien kommt kein Mensch auf die Idee zu sagen, wir Menschen sind etwas Höheres als alle anderen Lebewesen. Also kommunizieren die Menschen mit der Erde, mit den Tieren, mit den Pflanzen und verstehen sich nicht als etwas Besseres. Ganz ähnliche Grundhaltungen findet man auch im Amazonas-Regenwald, wo ein Herr oder eine Herrin des Waldes darauf aufpassen, dass der Mensch nicht zu viele Fische jagt, also nur so viel, wie er braucht zum Essen. Das sind ganz tief verwurzelte Wahrnehmungen, Erfahrungen, die sich auch in der Spiritualität der indigenen Völker ausdrücken. Gerade im Kontext der ökologischen Frage, wie man nachhaltig und in Harmonie mit der Schöpfung leben kann, können wir da sehr viel lernen.
Wilmer: Für mich habe ich eine Formel mitgenommen: weniger wortlastig, dafür sinnlicher, weniger Texte, dafür mehr Feiern, weniger Stolz, dafür mehr Demut und Bescheidenheit. Das ist wie beim Sonnengesang des heiligen Franziskus, der Tiere und Pflanzen als Teil der Schöpfung, als Bruder und Schwester sieht. Wir müssen den Schrei der Erde hören, die Erde als Organismus sehen, der atmet, der denkt, der spricht.
Das Verhältnis von Kirche und Staat in Bolivien ist angespannt. Wie wirkt sich das auf die Arbeit der Kirche aus?
Müßig: Die Kirche muss an manchen Stellen vorsichtiger sein, als sie das früher war. Die Kirche hat die Vermittlerrolle verloren, die sie früher in sozialen Konflikten zwischen Staat und Bevölkerung hatte. Die Kirche genießt in der Bevölkerung eine sehr hohe Glaubwürdigkeit und nutzt sie auch, um sich zu äußern. Es gibt in Bolivien so gut wie keine Gewaltenteilung mehr, weil der Staat sowohl die Justiz unter seine Kontrolle gebracht hat als auch das Parlament. Die Kirche ist die einzige Institution, die glaubwürdig und mit einem entsprechenden Gewicht Forderungen nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit immer wieder einbringt, natürlich zum Missfallen des Staates. Die Kirche muss sehen, wie weit sie da gehen kann und sie tut dies in einer bewundernswert offenen und mutigen Art und Weise.
Hennecke: Die Bischöfe, mit denen wir zusammen waren, haben ein sehr sensibles Empfinden dafür, was sie und wie sie es tun können und wie sie Freiheit ermöglichen.
In Bolivien gibt es Pfarreien, die mehr als 100 Gemeinden beziehungsweise Kirchorte haben. So groß sind die Einheiten im Bistum Hildesheim nicht, doch auch hier werden die Pfarreien immer größer. Was können wir konkret aus den Erfahrungen der Bolivianer mitnehmen?
Hennecke: Wir können miteinander lernen; auch in Bolivien gibt es dafür keine fertigen Rezepte. Der Unterschied ist, dass die Situation dort schon immer so war, für uns ist das eine neue Erfahrung. Worauf kommt es an? Auf die Begleitung, die Unterstützung der Leute, die vor Ort Verantwortung übernehmen. Das ist eine Herausforderung. An der theologischen Fakultät der Katholischen Universität von Cochabamba wird jetzt ein Kurs aufgelegt, um Engagierte spirituell und theologisch zu fördern und zu begleiten. Wir sind eigentlich an derselben Stelle, wir sind gemeinsam auf der Suche nach solchen Wegen. Die Frage lautet, wie wird Glauben vor Ort gelebt und bezeugt? Wie wird das Leben aus dem Glauben in einer Gemeinde vertieft? Welchen Dienst hat dann der Priester, der meistens ein- bis zweimal im Jahr da sein kann? Wie kann ein Kirchort selbstständig für sich Verantwortung übernehmen?
Die Partnerschaft wird im Bistum von einigen aktiven Gruppen und Gemeinden getragen, an vielen anderen Orten spürt man davon nichts. Gibt es Überlegungen, das mehr in die Breite zu tragen?
Hennecke: Die gibt es. Wir wollen mehr Zielgruppen in den Blick nehmen und die Hermandad diversifizieren. Neben den Gemeinden haben wir die Freiwilligen, die wir stärker vernetzen wollen, das habe ich schon erwähnt. Dann müssen wir überlegen, welche Rolle Schulen, Universitäten und Verbände spielen können. Wie wäre es mit einer Partnerschaft einer katholischen Schule im Bistum Hildesheim mit einer Schule in Bolivien? Ist ein Austausch von Professorinnen und Professoren auf Zeit denkbar? Können wir unsere Verbände in die Partnerschaft einbinden? Welche Themen können wir gemeinsam angehen? Darüber werden wir in nächster Zeit nachdenken und die Dinge dann angehen.
Wilmer: Wir wollen auf jeden Fall für ein höheres Bewusstsein dieser Partnerschaft in unserem Bistum sorgen.
Fast zeitgleich mit Ihrer Bolivienreise hat der Hildesheimer Superintendent Mirko Peisert Südafrika besucht. Nach seiner Rückkehr hat er die Frage aufgeworfen, ob unser hiesiger Überbau mit Kirchensteuer, großer Verwaltung und kirchlichen Beamten wirklich sinnvoll ist. Geht es Ihnen ähnlich?
Wilmer: Unsere Strukturen sind gewachsen, sie haben Chancen und Schwächen. Die große Chance besteht darin, dass wir als Kirche ein Dienstleister sein können für die Menschen, nicht nur für Katholikinnen und Katholiken, sondern auch für andere. Ich denke dabei beispielsweise an unsere Kitas, Krankenhäuser und Beratungsstellen. Ein zweiter Punkt ist, dass wir durch unsere Ressourcen mehr in Bildung und Ausbildung investieren können. Unsere Schwäche ist, dass wir hier und da zu einer Bürokratisierung der Kirche neigen, die der Frische des Heiligen Geistes einiges raubt.
Hennecke: Ich denke, die Situation bei uns und in anderen Teilen der Welt lässt sich nur schwer vergleichen. Als Kirche in Deutschland sind wir eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, dies bindet uns stark, ob es nun um Brandschutz oder Arbeitsrecht geht. Auf der anderen Seite können wir lernen, wie wir neu die eigene Tiefe unseres Christusglaubens stärken können. Glaube lebt ja aus innerer Begeisterung, aus der geistlichen Dynamik und dem Engagement der Menschen vor Ort. Und ja, hier können wir – ob in Südafrika oder Bolivien – viel lernen.
Die Diözesansynode 1989/90 hat beschlossen, zehn Prozent der Einnahmen des Bistums für die Kirchen in ärmeren Ländern zur Verfügung zu stellen. Die Quote wurde nie erreicht. Sie kommen nun mit vielen Eindrücken aus Bolivien zurück, haben die Not vor Ort erlebt. Werden Sie Anstrengungen unternehmen, dieses Ziel in absehbarer Zeit wieder in Augenschein zu nehmen?
Hennecke: Das finde ich deswegen schwierig, weil wir 1990 eine völlig andere Zeit hatten. Wir müssen uns fragen, was wir in Zukunft leisten können. Ein Ergebnis unserer Reise ist es, dass wir uns stärker auf die Partnerschaft mit Bolivien fokussieren wollen, auch zulasten anderer Projekte – und wir so mit den vorhandenen Mitteln mehr bewirken können.
Wilmer: Man hatte damals eine gute Absicht, aber offensichtlich gab es in der Zeit danach auch nachvollziehbare Gründe, dass man dieses Ziel nicht erreicht hat. Heute dürfte das noch schwieriger werden und so ist nicht geplant, dieses Vorhaben jetzt wieder einfach aufzugreifen. Das ist im Übrigen auch eine Frage der pastoralen Prioritäten, die auch im Diözesanpastoralrat bedacht und abgewogen werden will. Denn die Zeiten, in denen ein Bischof so etwas allein entscheiden konnte, sind ja schon länger vorbei.
Partner seit über 35 Jahren
Die Partnerschaft zwischen dem Bistum Hildesheim und der Kirche Boliviens wurde 1987 von den damaligen Bischöfen von Hildesheim und Potosí, Josef Homeyer und Edmundo Abastoflor, initiiert. Auf Spanisch heißt die Partnerschaft „Hermandad“, das bedeutet Bruderschaft und weist auf ein geschwisterliches Miteinander der Partner hin.
Seit der Gründung haben sich zahlreiche Kontakte zwischen Gemeinden, Gruppen, Verbänden und Schulen aus dem Bistum Hildesheim mit ähnlichen Einrichtungen in Bolivien entwickelt.
Jährlich finden ein Bolivientag und eine gemeinsame Gebetswoche statt. In der Regel alle zwei Jahre wird Interessierten die Möglichkeit geboten, Menschen und Lebensverhältnisse im jeweiligen Partnerland kennenzulernen. Derzeit arbeiten drei Freiwillige aus dem Bistum in Bolivien und vier Freiwillige aus dem südamerikanischen Land in der Diözese Hildesheim. Wie Hildesheim unterhält auch das Bistum Trier eine Partnerschaft mit der Kirche Boliviens.
An der Begegnungsreise im vergangenen Monat haben neben den Interviewpartnern auch der Umweltbeauftragte des Bistums, Dirk Preuß, sowie Leander Knoop als Mitglied der Bolivienkommission teilgenomen. Für einige Tage waren auch die neuen Referentinnen für Freiwilligendienste, Noelia Crespo und Dubravka Topcic, dabei.
Auf dem Programm der Gruppe standen diverse Gespräche mit Bischöfen, Ordensleuten, Besuche von Einrichtungen, Genossenschaften, Schulen und Universitäten. Ebenso gab es Begegnungen mit Freiwilligen aus dem Bistum Hildesheim.
In La Paz wurde die Delegation vom deutschen Botschafter José Schulz empfangen. Im Rahmen des weltwärts-Programms bezuschusst die Bundesregierung nicht nur den Einsatz von deutschen Schulabgängern in Bolivien, sondern auch den freiwilligen Dienst von jungen Bolivianern in Deutschland. Das Engagement von Staat und Kirche geht hier Hand in Hand.
Ein Reisebericht auf www.bistum-hildesheim.de