Austausch zur EVV-Studie über den Missbrauch

Der weite Weg zum Dialog

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Dialogveranstaltungen: Die Mainzer Bistumsleitung stellt sich den Fragen zur EVV-Studie über den Missbrauch. Rund 50 Menschen wollten im Erbacher Hof in Mainz ins Gespräch kommen über das Schlimme, das die Studie enthüllt. Von Ruth Lehnen


Bischof Peter Kohlgraf betont, es handle sich bei der EVV-Studie zu Missbrauchstaten im Bistum Mainz seit 1945 nicht um eine „Lehmann-Studie“. Er wolle an diesem Abend ins Gespräch kommen, in eine „andere Art des Miteinanders“. Nicht nur die „Institutionenverantwortung“ solle in den Blick genommen werden, sondern auch die Verantwortung der Täter. Generalvikar und Weihbischof Udo Markus Bentz sieht die Dialogveranstaltung als Schritt auf dem Weg zu einer lernenden Kirche. „Wie schaffe ich Möglichkeiten, mich hierarchiekritisch und angstfrei zu äußern?“ Stephanie Rieth als Bevollmächtigte des Generalvikars erläutert die wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie. 

1968 bis 1984: Die Verbrechen im Domchor

Als erster meldet sich ein Mann mit gebrochener Stimme. Er war im Domchor, habe die Verbrechen dort am Rande mitbekommen. Seine Frage ist die nach den Tätern. Er spricht einen der schwersten Missbrauchsfälle in der Geschichte des Bistums Mainz an. Der Domkapellmeister und der Domkantor waren 1984 verhaftet worden, beide hatten sich laut Studie seit 1968 an den jungen Sängern vergriffen und schwerste Straftaten begangen. Sie wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die EVV-Studie stellt fest: „Eine Aufarbeitung der damaligen Vorfälle innerhalb des Domchors ist danach nicht erfolgt.“ 
Bischof Kohlgraf benennt das Dilemma mit den Tätern: Um Vergebung zu bitten, müsste von den Tätern kommen. „Ein Tateingeständnis ist oft nicht vorhanden.“ Weihbischof Udo Markus Bentz erklärt, dass das Bistum heute von Tätern Geld einfordert, für Anerkennungsleistungen an die Betroffenen und für Therapiekosten. Stephanie Rieth verweist auf das Schutzkonzept, das den Domchor heute auszeichne. Dieses Schutzkonzept scheint im Detail auf die Erfahrungen mit den damals verübten Verbrechen zu reagieren. Einen Hinweis  zur  EVV-Studie  oder  zur Geschichte des Domchors in der Zeit der Missbrauchsverbrechen findet sich auf der Homepage des Chors nicht.

Das Dunkelfeld

Ein Vater „von vier Kindern und sechs Enkeln“ hat sich schriftlich vorbereitet und liest seine Stellungnahme ab. Er sei unglücklich darüber, dass Bischof Karl Lehmann so kritisiert werde. Dann wiederholt er die Einstellungen, die Bischof Lehmann zum Beispiel 2015 in dieser Zeitung im „Wort des Bischofs“ kundgetan hatte: Das Aufdecken von Verfehlungen in der Mitte der Kirche sei für viele „besonders reizvoll“, „freilich für die Kirche extrem schädlich“. So wie Lehmann seinerzeit auf „Verfehlungen“ im Sport, bei Ballett und Therapie hinwies, so tut es heute der alte Mann, der sagt, er sei seit 70 Jahren in der Kirche ehrenamtlich tätig. Er meint, nachgerechnet zu haben: Nur zweieinhalb Verurteilungen pro Jahr – alles nicht so schlimm? 
Bischof Kohlgraf antwortet, eine solche Rechnung mache er nicht mit. Er verweist auf das Dunkelfeld – viele weitere Taten sind zu vermuten, durch Vertuschung und Verjährung kam es zu wenigen Verurteilungen. Betroffene offenbaren sich später, je schlimmer die Tat war, manche erst nach 30 Jahren. Er sei in Verantworung für das Bistum Mainz, nicht für einen Sportverein oder einen Tanzclub, fügt er hinzu.

Beziehungstäter

181 Beschuldigte, bei 81 kam es zur Anzeige, 27 Strafverfahren folgten, nur acht Haftstrafen weist die Studie aus. Ines Rose, die im Berufsleben als Hauptkommissarin auf die Verfolgung sexualisierter Gewalt und Verbrechen an Kindern spezialisiert war und sich heute in der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Mainz engagiert, äußert sich dazu in der Versammlung: „Fremdtäter werden schnell angezeigt, Beziehungstäter ganz selten. Die schlimmsten Taten sind die, die uns nicht bekannt sind.“ 
Ein Ergebnis der Studie ist, dass Betroffene von den Tätern stark isoliert wurden. Ein Zitat eines Sängers aus dem Domchor: „Während der Jahre, in denen er mich sexuell missbraucht hat, wurde er zu meiner einzigen Bezugsperson. Er ersetzte meine Mutter, meinen Vater, meine Freunde, meine Lehrer. Er besetzte alle Rollen ...“. 
Die Stimmung im Saal ist angespannt. Der angestrebte Dialog ist noch mehr ein Fragenstellen und Stellungnehmen, die Zeit ist knapp. Moderatorin Ursula Teupe weist aber auf die vielen Möglichkeiten hin, mit dem Bistum Kontakt aufzunehmen, auch weiterhin Missbrauch zu melden. 

Schweigegebote für Gemeindereferentinnen

Lioba Breu-Wedel, die lange im Bistum Mainz Gemeindereferentin war, lenkt den Blick auf „falsches Leitungshandeln“. Man könne diese Verantwortung nicht auf die Gemeinden abschieben, die über die wahren Gründe für Versetzungen im Unklaren gelassen wurden. Es gab Schweigegebote der Bistumsleitung für Gemeindereferentinnen, die das Richtige hatten tun wollen und von ihren Vorgesetzten daran gehindert wurden, sagt Breu-Wedel und fragt: „Sind sie um Vergebung gebeten worden?“   
Die Bevollmächtigte des Generalvikars Stephanie Rieth hatte schon zuvor darauf hingewiesen, dass das nun strenge und stringente Handeln nach Verdachtsfällen den Vorwurf des „Rigorismus“ auslösen könne. Ein Echo auf das jüngste Eingreifen in Eppertshausen kommt von einem Ehepaar. Der Priester, der in Verdacht steht, werde immer in ihrem Herzen sein, sagt die Frau. Sie kann die Vorwürfe nicht glauben und ist überzeugt, dass es sich um eine Verleumdung handelt. Stephanie Rieth erklärt wieder das Vorgehen: Eingreifen, sobald eine Meldung vorliegt. Warten bis zu einem Nachweis würde bedeuten, weitere Kinder zu gefährden und sei unverantwortlich. Zum Abschluss stellt Rieth fest, dass „Befriedung“ in den allerwenigsten Fällen möglich ist. „Wir hätten es gern, dass alles gut wird, aber das geht nicht.“

Von Ruth Lehnen

ZITIERT

Stellungnahme der Unabhängigen Aufarbeitungskommission

Die Stellungnahme der Unabhängigen Aufarbeitungskommission zur EVV-Studie: 
 "Mit der Veröffentlichung der Studie durch Ulrich Weber und Johannes Baumeister hat das Thema Aufarbeitung im Bistum Mainz eine neue Dynamik bekommen.

Als Unabhängige Aufarbeitungskommission im Bistum Mainz beschäftigen wir uns schon lange vor Veröffentlichung der EVV-Studie mit dem Thema Aufarbeitung. Mit der Studie sind nun weitere Fakten bekannt, die wir auswerten und bearbeiten werden. Verständlicherweise können so kurz nach Veröffentlichung der Studie und Presseerklärung des Bistums noch keine Ergebnisse erwartet werden. Die Unabhängige Aufarbeitungskommission wird sich intensiv mit den Fragen befassen, wie mit den Ergebnissen der Studie umzugehen ist, welche Erkenntnisse zu ziehen und welche konkreten Maßnahmen und Strukturänderungen abzuleiten sind.

Wir werden die Themenbereiche

- Dokumentation und Erfassung 
- Frieden finden - Bedarfe der Einzelnen 
- Prävention und Intervention 
mit Ergebnissen und Maßnahmen füllen, damit zukünftig Missbrauchstaten und Grenzüberschreitungen verhindert werden können. 
In diesem Zusammenhang werden wir als erstes an den 5 Dialogveranstaltungen im Bistum teilnehmen, um die Stimmung einzufangen und weitere Informationen von außen zu erhalten. 
Zu gegebener Zeit werden wir mit ersten Ergebnissen an die Presse herantreten."

Ursula Groden-Kranich

Vorsitzende der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Mainz

unabhaengig@aufarbeitung-mainz.de          

https://aufarbeitung-mainz.de/

Hinweis: Der Artikel wurde aktualisiert.

Ruth Lehnen