Gibt es Menschen ohne Gott?

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Rudolf Hubert (geb. 1958)
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Foto: Achim Rizvani

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Rudolf Hubert (geb. 1958)

Am 30. März vor 40 Jahren starb Karl Rahner. Rudolf Hubert hat in 40 Jahren im Dienst der Caritas Mecklenburg immer wieder auf die Gedanken dieses großen Theologen zurückgegriffen. So auch jetzt, auf der Schwelle zum Ruhestand.

„Wenn der Mensch keinen Gott hat…“, so beginnt ein Satz von Karl Rahner. Was ist, wenn der Mensch keinen Gott hat? 

Ich glaube, Karl Rahner würde darauf insistieren, dass jeder Mensch von Gott angesprochen wird. Der allgemeine und wirksame Heilswille Gottes ist vom jüngsten Konzil mit aller Deutlichkeit betont worden. Dennoch ist die Frage berechtigt. Was Rahner in diesem Zusammenhang anspricht, ist das „verschüttete Herz“. Wenn Gott tatsächlich aus dem Blick gerät, stellen sich sofort all jene Götzen ein, die seinen Platz einnehmen und uns versklaven. Das ist kein Pathos einer „angestaubten Geschichte“, sondern aktuelle Erfahrung in unserer Welt, wo Macht, Luxus, Verschwörungsmythen gottgleiche Ansprüche stellen und uns gefangen nehmen. 

Anders als der Theologieprofessor Rahner haben Sie ein Leben in einer weitgehend atheistischen Gesellschaft verbracht. Menschen ohne Religion, die gibt es. Aber gibt es Menschen ohne Gott? 

Ich glaube nicht, dass es Menschen ohne Gott gibt. Weil Gott die alles bestimmende Wirklichkeit ist. Das „verschüttete Herz“ – diese Gefahr ist eine Wirklichkeit von erschreckendem Ausmaß. Damit ist die Aufgabe der Kirche klar benannt, die in der „Öffnung des Herzens“ besteht, wie auch das erste Kapitel in Rahners Bestseller „Von der Not und dem Segen des Gebetes“ überschrieben ist. Denn wenn Menschen so leben, als ob es Gott nicht gibt, dann kommt es unweigerlich, wie Karl Rahner sagt, zur „Herrschaft partikularer Götzen, in denen die rationale Kalkulation, die Technik, der Stolz, alles machen zu können, das perfekte Funktionieren eines Systems, der Sexus, die Macht und so fort absolut gesetzt monoman zum einzigen Ausgangspunkt und zum je einzigen Richtmaß des Handelns und des Lebens gemacht werden.“ 

Sie sind jetzt seit Jahren verantwortlich für Caritaspastoral. Ist Caritas ein pastorales Projekt? 

Ich kann auf diese Frage mit einem Wort unseres Erzbischofs Stefan antworten: „Ich begreife unsere Kirche als dienende Gemeinschaft. Eine karitative Haltung ist für mich wesentlich und zukunftsweisend.“ In jeder caritativen Tätigkeit, ob in der Pflege, in der Beratung und Betreuung, in der Jugendarbeit oder im Hospiz, überall, wo Begegnung ist, wo Hoffnung vermittelt wird, wo etwas Gutes geschieht im Sinne der tätigen Nächstenliebe, ist Gott gewissermaßen „mit im Spiel“. Wer diesen Satz bestreitet, würde behaupten, dass es etwas Gutes gäbe ohne Gottes Mit- und Zutun. Und das geht nach christ-katholischem Glauben nicht. 

Haben Sie die erklärte – oder heimliche – Hoffnung, dass sich Menschen durch die Arbeit der Caritas zum katholischen Glauben bekehren? 

Was meinen Sie mit „bekehren“? Wo Liebe geschieht, nicht um des Anderen willen, sondern um etwas zu erreichen, wird sie pervertiert. Mit den Worten Karl Rahners gesprochen: „So wie Sie durch einen anderen Menschen im Ernst nur glücklich werden können, wenn Sie diesen anderen Menschen um seiner selbst willen, und nicht um Ihres eigenen Glückes willen lieben, so ein ähnliches Verhältnis ist auch zwischen den Menschen und Gott.“ Wenn in Menschen durch die Erfahrung von Annahme und Geborgenheit eine Ahnung aufkommt, dass das Leben ein Geschenk ist, dann ist auch das ein Geschenk, das man dankbar empfangen darf. Daher tue ich mich mit der Vokabel „bekehren“ hier etwas schwer. Wenn ich persönlich allerdings merke, dass mein Weg geändert werden muss, dann ist es selbstverständlich, dass ich ihn auch ändern sollte. Hier hat ‚Bekehrung‘ für mich ihren „Sitz im Leben“. 

Wie steht es mit den Mitarbeitern der Caritas? Wie gläubig müssen sie sein? 

Auch gegenüber den Mitarbeitenden in der Caritas gilt selbstverständlich, dass Liebe in der Dienstgemeinschaft, im Führungsstil, in Beratungsgesprächen absichtslos zu sein hat, wenn sie sich nicht ad absurdum führen will. Mir hilft der heilige Thomas mit seiner Aussage: „Lieben heißt, jemandem Gutes wollen“ ebenso wie die Aussage des Jesuiten Pedro Arrupe, der sagte: „Die Reife eines Menschen zeigt sich am deutlichsten an dem Dienst, den er in der Gemeinschaft leistet.“ 

Sie haben die Caritas in Mecklenburg mit aufgebaut, waren beteiligt am politischen und sozialen Neuaufbau, haben den Dialog der Kulturen vorangetrieben – und sehen nun, wie Unzufriedenheit herrscht und tot geglaubte „Götzen“ zurückkehren. Sind Sie am Ende enttäuscht? 

Das Wort „enttäuscht“ ist ein gutes Wort, denn es heißt ja eigentlich, von einer Täuschung befreit zu sein. Trotzdem würde ich entschieden sagen: Nein, ganz im Gegenteil! Ich habe in der Caritas so viele wunderbare Menschen kennenlernen dürfen, dass ich Gott nur – und zwar aus vollem Herzen – dankbar dafür sein kann, dass er mich diesen Weg geführt hat. Ich möchte noch weitergehen, denn ich bin nicht nur gerne Mitarbeiter in der Caritas. Ich bin gern Mitarbeiter in der kirchlichen Caritas, weil ich Kirche nie ohne Caritas denken kann. Und umgekehrt: Caritas ist für mich nicht denkbar ohne die Verheißung, die uns durch die Kirche zugesprochen wird. Es ist die Kirche, die mir mit Verweis auf Jesu Leben, Tod und Auferstehung sagt: Trau Deiner Hoffnung, sie ist keine Illusion, sie hat Grund und Ziel in dem, den wir Gott nennen. Um mit Papst Benedikt zu sprechen: „Nur die Liebe, die allmächtig ist, kann Grund angstloser Freude sein.“  Sollte ich über dieses Geschenk des Glaubens nicht froh sein?

Nach über 40 Jahren im Dienst der Caritas geht Ihre Dienstzeit zu Ende. Welche Pläne haben Sie noch? 

Zunächst: Ich habe versprochen, der Caritas auch dienstlich treu zu bleiben, mit der Hälfte einer Vollzeitkraft. Dann habe ich eine große Familie mit vier Kindern und sechs Enkelkindern, die nicht alle hier in der Nähe wohnen. Für sie mehr Zeit zu haben, ist eines der Dinge, auf die ich mich freue. Ein besonderes Highlight in diesem Jahr ist unser 40-jähriger Hochzeitstag, den wir mit Kindern und Enkeln auf einem Schiff verbringen möchten. Und ja, natürlich, die Theologie lässt mich nicht los, besonders nicht jene von Karl Rahner. Hier hab‘ ich noch einiges vor, auch in Caritas und Gemeinde.

Interview: Andreas Hüser

Als „Fürsorger im kirchlichen Dienst“ hat Rudolf Hubert (geb. 1958) im Jahr 1983 bei der Caritas Mecklenburg angefangen. Er war lange Kreisgeschäftsführer der Caritas in Westmecklenburg und später Regionalleiter. Seit 2019 ist Hubert Referent für Caritaspastoral für das ganze Bistum. In zahlreichen Publikationen hat er die Theologie Karl Rahners aufgegriffen, kommentiert und erklärt.

Andreas Hüser