Interview mit Friedensethiker Professor Heinz-Gerhard Justenhoven

Kirchen können Wegbereiter für den Frieden sein

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„Bringt junge Geflüchtete aus der Ukraine und aus Russland ins Gespräch miteinander“ – und zwar auf dem neutralen Boden der Kirchen. Das rät der Friedensethiker Professor Heinz-Gerhard Justenhoven vom Institut für Theologie und Frieden (ithf) in Hamburg.


 


Professor Heinz-Gerhard Justenhoven (Jahrgang 1958)
vom Institut für Theologie und Frieden (ithf), einer
wissenschaftlichen Forschungseinrichtung der
katholischen Militärseelsorge, die sich mit ethischen
Fragen des Friedens und der Friedensgefährdungen
auseinandersetzt.

Seit einem Jahr ist Krieg in der Ukraine. Wie groß sind momentan die Chancen auf Frieden?

Zunächst müssen wir sauber unterscheiden zwischen einem Angriffskrieg, den die russische Regierung und die russischen Truppen führen, und einem Verteidigungskrieg, den die ukrainische Seite führt. Das sind, auch ethisch betrachtet, völlig unterschiedliche Dinge. Es herrscht nicht einfach Krieg, sondern ein Land hat das andere überfallen.

Und wie sehen Sie die Friedenschancen?

Ich setze etwas niedriger an und sage: Wir reden im Moment über die Chance auf einen Waffenstillstand. Frieden zwischen der Ukraine und Russland – und zwischen Völkern allgemein – ist ein sehr anspruchsvolles Ziel, gerade nach kriegerischen Auseinandersetzungen. Das sieht man beispielsweise am Prozess der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich oder Deutschland und Polen. Solche Prozesse dauern viele Jahre – mindestens eine Generation. Einen Waffenstillstand in der aktuellen Situation kann es nur geben, wenn die russische Regierung bereit ist, ihre Aggression gegen die Ukraine zu beenden. Das heißt aber auch: Wer einen Waffenstillstand fordert, muss akzeptieren, dass die russische Seite gewaltsam und erfolgreich Gebiete erobert hat. Gleichwohl ist zu hoffen, dass es möglichst schnell zu einem Ende der Kampfhandlungen kommt – im Interesse aller, die unter dem Krieg leiden. Es gibt Gesprächskanäle, einen Gefangenenaustausch; es gab beispielsweise das Getreideabkommen. Es ist zu wünschen, zu hoffen und zu fordern, dass in diese Richtung weitere Initiativen unternommen werden.

Aber kann man mit einem Aggressor wie Putin überhaupt noch verhandeln?

Man muss! Die Alternative, ein Gesprächs­abbruch, würde den momentanen Zustand einfach nur verlängern. Diplomatie heißt, auch mit denen zu reden, mit denen man eigentlich nicht reden will.
Die Meinungen, was den Krieg in der Ukraine betrifft, gehen weit auseinander und sorgen selbst in der Familie und im Freundeskreis für Streit. Was raten Sie?
Ich empfehle, miteinander zu diskutieren und Meinungsverschiedenheiten zu ertragen. Das gehört zur Demokratie. Wenn wir das nicht tun, leben wir nur noch in Echokammern und umgeben uns mit Menschen, deren Überzeugungen mit unseren übereinstimmen. Auch ich stelle mich kritischen Fragen und habe in den Debatten der vergangenen Monate dazugelernt. Es ist wichtig, Argumente auszutauschen und auszuhalten, ohne polemisch zu werden.

Christen stehen traditionell für Gewaltfreiheit. Aber kommen wir in diesem Krieg, der als brutaler Angriffskrieg geführt wird, mit Pazifismus weiter?

Unstrittig ist, dass dem Opfer einer Aggression geholfen werden muss, wenn es sich aus eigener Kraft nicht wehren kann. Welche Mittel angemessen sind, ist nicht nur unter Christen umstritten. So empfiehlt zum Beispiel Véronique Dudouet von der Berliner Berghof Foundation der Ukraine den ihrer Ansicht nach erfolgreicheren, weil gewaltloseren zivilen Widerstand gegen die russische Invasion. Auf dieser Linie argumentieren auch Vorstandsmitglieder von „Pax Christi“ in ihrer Forderung, dass „Mittel des zivilen Widerstands erprobt werden“ müssten. Ich bin skeptisch – was sich darauf gründet, dass die russische Besatzungsmacht in den besetzen Oblasten Cherson und Saporischschja mit der Entführung der Aktivisten reagiert und auf diese Weise den zivilen Widerstand unterdrückt hat. Ziviler Widerstand kommt auch an seine Grenzen, wenn die russische Armee mit Raketenangriffen grundlegende zivile Infrastruktur zerstört. Gegen Raketenbeschuss auf zivile Infrastruktur ist ziviler Widerstand macht- und wirkungslos.

Die Kirchen in Deutschland beten für den Frieden, beteiligen sich an Friedensdemonstrationen, Friedensketten oder Mahnwachen. Weitermachen – oder bringt das nichts?
Es ist wichtig, dass wir uns nicht an den Krieg gewöhnen. Wir müssen alles dafür tun, Gewalt zu überwinden, in den internationalen Beziehungen und auch in unserer Gesellschaft. Friedensgebete sind der Weg für uns Christen, Gott um Beistand zu bitten, aber wir sollten es nicht dabei belassen.

Was schlagen Sie vor? Welche Rolle könnten die Kirchen noch stärker übernehmen?

Viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich für Geflüchtete aus Kriegsgebieten – nicht nur aus der Ukraine. Kirchengemeinden bieten zum Beispiel auch Wohnraum an. Sie könnten aber darüber hinaus junge Geflüchtete aus Russland und der Ukraine zusammenbringen, um die Sprachlosigkeit zu überwinden, um Echokammern aufzubrechen – auch Russ­landdeutsche und vor allem russische Intellektuelle, die sich gegen den Krieg gestellt haben, sollten dabei sein. Die Kirchen könnten zu Gruppenstunden, Lagerfeuer oder Grillfesten einladen und somit Dialogräume auf neutralem Gebiet anbieten, Türen öffnen. Das wäre ein Schritt hin zu wirklichem Frieden, denn irgendwann wird der Krieg beendet sein. Egal wie schwierig dieser Weg zwischen der ukrainischen und der russischen Zivilgesellschaft werden wird – es gibt keine Alternative dazu. Sonst bricht der Konflikt früher oder später erneut auf.

Angenommen, wir würden im nächsten Jahr zur gleichen Zeit erneut über den Krieg in der Ukraine sprechen: Was wäre Ihre Hoffnung?

Dass wir dann bereits an Fragen des Wiederaufbaus und der Versöhnung arbeiten können.

Interview: Anja Sabel