Niemand pilgert mehr zum heiligen Jörg

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Taufanlage
Nachweis

Foto: Marco Heinen 

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Taufe an der Ostsee muss keine kalte Sache sein. Die bronzene Taufanlage von 1424 ist so gebaut, dass im Sockelteil ein Feuer das Taufwasser aufwärmen kann. 

Der Norden Deutschlands war einmal reich an Wallfahrtsorten. Viele dieser Traditionen sind heute abgestorben. Der Hamburger Geistliche, Ökumene-Spezialist und emeritierte Domkapitular Wilm Sanders erinnert an eine fast vergessene Pilgerstätte. Und an deren Heiligen, der einen ganz merkwürdigen Namen hat. Jörg oder Jürgen. Gibt es den überhaupt?

In meiner Zeit als Kurat der Pfadfinder in Kiel (1964–1974) gab es eine gewisse Tradition, am St.-Georgs-Tag, dem 23. April, im Ring deutscher Pfadfinderverbände, einer Vereinigung des konfessionell offenen Bundes deutscher Pfadfinder (BdP), der Christlichen (evangelischen) Pfadfinder (CP) und der katholischen St.-Georgs-Pfadfinder (DPSG) zu einer gemeinsamen Veranstaltung zusammenzukommen. Das konnte auf dem Zeltplatz beim Ansveruskreuz in Einfeld bei Ratzeburg sein, in der Freilichtbühne auf der Krusenkoppel in Kiel oder bei der Kieler St.-Jürgen-Kirche, die an die bereits im Jahr 1267 erwähnte St.-Jürgen-Kapelle des alten Leprosenhospizes erinnert. In besonderer Erinnerung ist mir eine solche gemeinsame Feier in der Katharinenkirche in Lübeck bei dem Gipsmodell der St.-Jürgen-Gruppe aus der St. Nikolai-Kirche in Stockholm. Das dortige Original aus Holz schuf der Bildhauer Bernd Notke (1425–1509) in seiner Werkstatt in Lübeck. Unbekümmert sangen wir das Landsknechtslied: „Sankt Jörg, du edler Ritter, verleih‘ uns deinen Mut: Wir ziehen über die Straßen in schwerem Schritt und Tritt, und über uns die Fahne, sie flattert lustig mit.“

Zu einer solchen Zusammenkunft hätte sich auch die Kirche in Gettorf angeboten, was während meiner Kuratenzeit leider nicht wahrgenommen wurde. Gettorf ist ein vorreformatorischer Wallfahrtsort zum heiligen Georg, oder wie es in Norddeutschland gern heißt: St. Jürgen.

Der heilige Georg stammte aus Kappadokien, einer römischen Provinz in Kleinasien. Nach einer alten Legende tötete er in der libyschen Stadt Silena den mörderischen Drachen und rettete so die Tochter des Königs. Ungezählte Darstellungen des Drachenkampfes bleiben ein Bild für den kraftvollen Sieg des Guten über das Böse. Als Militärtribun und später als hoher Offizier in Palästina verteilte er Lebensmittel an die Armen und bekannte sich öffentlich zum Chris­tentum. Zur Zeit des Kaisers Diokletian erlitt er wahrscheinlich im Jahr 284 nach schweren Foltern den Martertod durch Enthauptung. 

Sein Grab wird in Lod bei Tel Aviv, dem antiken Lydda, von Christen und Muslimen gleichermaßen verehrt. Eine byzantinische St.-Georgskirche aus dem 6. Jahrhundert wurde 1870 zu einem christlich-islamischen Doppelheiligtum. Bei den arabischen Muslimen heißt Georg „Chidr“ (umgangssprachlich „al-Chodr), bei den türkischen „Hizir“. Zu ihm ruft man, wann man in Not ist. Auch in der westlichen Tradition zählt der heilige Georg zu den 14 Nothelfern. – Bei einer Heilig-Land-Fahrt mit dem Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem beteten wir 1999 in der Krypta der griechischen Kirche am Kenotaph des Heiligen aus weißem Marmor.

Die St.-Jürgen-Kirche in Gettorf wurde 1319 erstmals erwähnt. Wahrscheinlich stammt sie bereits aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Im Mittelalter entwickelte sich hier eine blühende Wallfahrt zu einem silbernen Bild des heiligen Georg, für das 1483 eine eigene Gnadenkapelle neben der Gemeindekirche errichtet wurde. Mehrfach musste sie nach Westen verlängert werden. Mit 40 Metern innerer Länge war diese Kapelle ein spätgotischer Raum, der weit über die Bedürfnisse der Ortsgemeinde hinausging. Sie gibt aber bis heute Zeugnis von den Scharen der Wallfahrer, die nach dem Besuch des Gnadenbildes hier die heilige Messe mitfeierten. Ältester Teil des Backsteinbaus ist der eigentümlich aus der Mittelachse gerückte stattliche Chorraum. 

Auch erhielt die Kirche Ende des 15. Jahrhunderts ihren mächtigen Turm, der die Landschaft des sogenannten „Dänischen Wohld“ (zum dänischen Krongebiet gehörender Wald zwischen Eider und Ostsee) bis heute weithin beherrscht. Er wurde 1491 mit quadratischem Grundriss auf den Mauern eines Feldsteinbaus vollendet, in dem vermutlich das silberne Georgsbild vor dem Bau der eigenen Kapelle verehrt wurde. Die Reformation brachte die Wallfahrt zum Erliegen, das Gnadenbild kam 1588 in den Besitz der Familie von Ahlefeld, die damals das Patronat über die Kirche hatten. Leider ist es inzwischen verschollen. Die St.-Jürgen-Kapelle wurde 1620 abgerissen.

Spätmittelalterliche Frömmigkeit ließ auch in Gettorf eine Mariengilde entstehen, die in den Jahren 1518/20 den Anstoß zum Anbau einer Marienkapelle an der Südseite der Kirche gab und die bis heute gelegentlich als „Neue Kirche“ bezeichnet wird. Hier fand 1521 der vielleicht schon früher entstandene Marienaltar aus einer Lübecker Werkstatt seine Aufstellung, der heute als das bedeutendste Kunstwerk der Kirche als Hauptaltar dient. Im geöffneten Aufsatz trägt die Gottesmutter das Christuskind im Mittelfeld vor strahlendem Hintergrund, umgeben von einem Rosenkranz mit Engeln und Evangelistensymbolen. Die Seitenflügel zeigen weihnachtliche Reliefs.

Das älteste Kunstwerk der Kirche ist die mit Szenen aus dem Leben Jesu geschmückte Bronzetaufe von 1424. Sie wird von vier Figuren getragen, die ermöglichten, mit Hilfe eines Holzkohlenfeuers das Taufwasser zu erwärmen. Bemerkenswert ist auch die 1598 eingebaute Kanzel. Sie ist ein Werk von Hans Gudewerdt, dem ersten Künstler einer bedeutenden Bildschnitzerfamilie aus Eckernförde. Anstelle der mittelalterlichen Sakristei errichtete die Patronatsfamilie von Ahlefeld sich an der Nordseite des Chores 1643 eine eigene Gruftkapelle.

Wilm Sanders