Kirchenmusik

Wenn Musik Bilder malt

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Seit Monaten probt der Domchor Haydns „Schöpfung“. Der Countdown bis zur Aufführung läuft.
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Foto: Edmund Deppe

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Seit Monaten probt der Domchor Haydns „Schöpfung“. Der Countdown bis zur Aufführung läuft.

Zwischen 1796 und 1798 entstand Joseph Haydns „Die Schöpfung“. Haydn thematisiert in diesem Oratorium die Erschaffung der Welt, wie sie im ersten Kapitel der Genesis erzählt wird. Als ökumenische Co-Produktion der Musik an St. Michaelis und der Dommusik unter Leitung von Angelika Rau-Čulo, Thomas Viezens und Michael Čulo wird „Die Schöpfung“ am 10. und 11. Juni in der Hildesheimer St.-Michaelis-Kirche aufgeführt.

Warum fiel die Wahl als der kirchenmusikalische Höhepunkt in diesem Jahr auf „Die Schöpfung“?

Thomas Viezens: Erderwärmung, Trockenheit und Dürre, dann wieder lang anhaltende Starkregenfälle mit katastrophalen Überschwemmungen. Unordnung, Chaos, Krieg an vielen Stellen unserer Erde, letztlich auch die Coronapandemie: All diese Dinge haben mit dazu beigetragen, das von Joseph Haydn (1732–1809) in den Jahren 1796 bis 1798 komponierte Oratorium ins Blickfeld zu nehmen. Wir alle stehen mit beiden Beinen im Leben, erleben die Diskrepanzen in der Beachtung bzw. Missachtung der Natur. Sowohl diese genannten gegenwärtigen Ereignisse als auch die wunderbare und großartige Musik, die von der Erschaffung der Welt und allen Lebens berichtet, in der Haydn das „Chaos“ vor Beginn der Zeiten schildert und das Oratorium mit einem großen Lobpreis („Singt dem Herren alle Stimmen! Dankt ihm alle seine Werke!“) enden lässt, sind tolle Herausforderungen für alle musikalisch beteiligten Personen. Ein Werk, das auch Mut macht zur Mitarbeit an der Verbesserung der menschengemachten klimatischen und gesellschaftlichen Problematik.

Was heißt es für die beteiligten Chöre am Hildesheimer Dom und der Kantorei St. Michael, ein solches Oratorium zu Gehör zu bringen?

Dommusikdirektor Thomas Viezens
Dommusikdirektor Thomas Viezens, Foto: Privat

Thomas Viezens: Zunächst einmal fordert es alle heraus, sich mit den Tönen und dem Text auseinanderzusetzen. Jede Sängerin, jeder Sänger macht sich selbst mit den Tönen vertraut, besucht regelmäßig die Proben, in denen die einzelnen Stimmen in Zusammenklang gebracht werden. Es ist also nicht anders als bei der Vorbereitung anderer Werke, auch der gottesdienstlichen Literatur. Wie immer gilt es, neben dem eigenen Produzieren der Töne auch die der anderen um sich herum wahr zu nehmen. Also: mit den Ohren zu den Nachbarinnen und Nachbarn sowie mit den Augen zur leitenden Person singen.

Jeder Chor hat zunächst für sich gearbeitet. Dann gab es aber auch zwei gemeinsame Probentage, bevor das ganze in die Generalprobe und die Konzerte mündet.

Die ehren- und hauptamtlichen Musiker der beiden Kirchen reichen ja sicherlich nicht aus. Wer muss alles zugebucht werden?

Michael Čulo: Neben den drei Hauptamtlichen der Kirchenmusik und den Sängerinnen und Sängern der jeweiligen Chöre sind bei einem solchen oratorischen Werk noch Solistinnen und Solisten sowie ein großes Orchester notwendig. Die drei Soli stellen drei Engel dar und sind gute Bekannte in Hildesheim: Martina Nawrath ist Stimmbildnerin der Dommusik, Tobias Meyer Basilikachorleiter in St. Godehard, Johannes Schwarz hat schon mehrfach in beiden Kirchen gesungen. Marlene Goude-Uter stellt das Orchester, die Sinfonietta Hildesheim zusammen, mit Streichern, Holz- und Blechbläsern, Pauken und einem Tasteninstrument. Das sind circa vierzig Spielerinnen und Spieler.
Dann kommt noch Hannes Michl dazu, der das Familienkonzert entwickelt hat und selbst schauspielert. Darüber hinaus gibt es aber noch ganz viele helfende Hände, die man gar nicht sieht: vom Entwerfen der Plakate und Flyer, des Programmhefts über den Druck bis hin zum Aufbau der Podeste. Und dann natürlich noch die Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrkräften, die eine Ausstellung zum Familienkonzert vorbereitet haben.

Welche Herausforderungen stellt das Stück an die beteiligten Chöre, Solistinnen, Solisten und das Orchester?

Angelika Rau-Čulo, Kirchenmusikdirektiorin an St. Michael
Angelika Rau-Čulo, Kirchenmusikdirektorin an St. Michael, Foto: Musik an St. Michaelis

Angelika Rau-Čulo: Das Werk fordert uns als Musizierende heraus durch seine eindrucksvollen musikalischen Kontraste, die den Bogen spannen von kühnen Harmonien über die schwungvollen und heiteren, harmonisch eher schlicht gehaltenen Chöre, hin zu den wunderbaren Solo-Arien, die heiter und anmutend daherkommen.
Im Teamwork aller Musizierenden werden wir diese musikalischen Bilder in den vielen verschiedenen Farben, Schattierungen und Nuancen in St. Michaelis klangvoll malen. Die Vorfreude steigt!

Was bedeutet die Vorbereitung auf so eine Aufführung für die Probenzeiten?

Angelika Rau-Čulo: Alle beteiligten Chöre haben in ihren „normalen“ Probenzeiten die Töne einstudiert; dazu gab es die Möglichkeit, mit Übe-MP3-Dateien in verschiedenen Varianten zu üben. Die Grundlagen von Tönen, Rhythmen und Text waren schnell gelegt und bei den gemeinsamen Probentagen haben wir unsere musikalischen Ideen ausprobiert, gefestigt und trainiert. Am Ende der Chorproben und der Probentage hatten so ziemlich alle mindestens einen musikalischen Ohrwurm.

Welches sind für Sie die besonderen Herausforderungen der „Schöpfung“?

Michael Čulo: Neben den prächtigen Chören und den schönen Arien hat Haydn ein paar ziemlich vertrackte Nummern komponiert. Da erfindet er Klangbilder für die Tiere, über die in der Schöpfung berichtet wird. Die Musik wechselt innerhalb von Sekunden. Als Dirigent muss man da ganz schön auf Zack sein, um im richtigen Moment den passenden Ausdruck zu finden und alle Musizierenden beisammenzuhalten. Nicht zu vergessen das spannendste Stück: das Chaos zu Beginn. Da braucht es Klarheit von der anleitenden Person. Sonst wird es wirklich chaotisch.

Die Schöpfung malt musikalische Bilder. Welches beeindruckt Sie besonders?

Thomas Viezens: Da gibt’s viele, die wirklich beeindruckend sind. Ich nehme gleich das erste, Michael Čulo hat es gerade genannt. Haydn beschreibt in einer Ouvertüre die Zeit unmittelbar vor der Erschaffung der Welt und überschreibt sie mit dem Titel „Die Vorstellung des Chaos“: Alle Instrumente spielen zu Beginn einen gemeinsamen Ton. Der Komponist malt anschließend ein Klanggemälde, in dem er zarte Pastellfarben neben große Striche setzt, das heißt, er lässt die Instrumente sehr leise, aber auch wieder sehr kräftig spielen.
Wenn man sich mit der musikalischen Struktur auseinandersetzt, stellt man fest, dass sie bewusst häufig ungeordnet komponiert ist, also in eine Richtung läuft, diese dann aber abrupt ändert – scheinbar chaotisch. Raphael, einer der Erzengel, singt am Ende des Orchestervorspiels „Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde; und die Erde war ohne Form und leer; und Finsternis war auf der Fläche der Tiefe.“ Jetzt kommt langsam Ordnung ins Geschehen, denn der Chor singt – sehr leise, pianissimo, nur begleitet durch die Streicher – „Und der Geist Gottes schwebte auf der Fläche der Wasser; und Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht.“ Das letzte Wort des Chores „Licht“ erklingt nun in strahlendem, klaren C-Dur im Fortissimo mit vollem Orchester. Vom dunklen, noch konturlosen, nicht zu greifendem Hin und Her zu einem mit einem Mal sichtbaren klaren, in gleißendes Licht gehülltes Bild. Toll! 

Domkantor Michael Čulo
Domkantor Michael Čulo, Foto: Dommusik

Was erwartet die Zuhörer?

Angelika Rau-Čulo: Die Zuhörerinnen und Zuhörer dürfen sich auf zwei Aufführungen voller schöner Melodien, voller farbenprächtiger Bilder und auf den Klangraum St. Michaelis, erfüllt von himmlischer Musik, freuen.
Es gibt zwei Konzerte: einmal am Samstag, 10. Juni, um 15 Uhr und dann am Sonntag, 11. Juni, um 19 Uhr. Am Samstag ist es umschrieben mit „für Klein & Groß“.

Was ist bei diesem Konzert anders?

Michael Čulo: Am Sonntag erklingt die Schöpfung konzertant. So wie man klassische Konzerte üblicherweise erlebt. Am Samstag kommt eine neue Hauptfigur dazu: ein Maler, der den Kindern und Familien in seinen Worten die Schöpfungsgeschichte und Haydns Musik näherbringt. Es darf auch mitgemacht werden: Man darf zum Beispiel als Tier verkleidet kommen oder als Teil des Wetters typische Geräusche und Klänge machen. Das Familienkonzert ist auch kürzer: es wird circa fünfzig Minuten dauern. Die Kleinsten dürfen ganz vorn sitzen. Und: ein paar Schulen haben sich im Vorfeld mit der Schöpfung beschäftigt und präsentieren ihre künstlerischen Ergebnisse in einer Ausstellung.

Karten für „Die Schöpfung“ gibt es online unter https://www.reservix.de und vor Ort in Hildesheim bei ameis Buchecke. Restkarten sind am 10. Juni ab 14.15 Uhr an der Tages- beziehungsweise am 11. Juni ab 18.15 Uhr an der Abendkasse erhältlich. Mehr Infos unter: https://www.michaelismusik.de.  

Edmund Deppe