Ein Stadtteil tut sich zusammen und erfindet ein Haus für alle.
Die Villa, in der nichts unmöglich ist.

Foto: Andreas Hüser
Diese Villa in Niendorf ist heute ein Begegnungszentrum und für alle Menschen offen.
So etwas muss man erstmal finden. Eine Villa mitten in der Großstadt, mit riesigem Garten und alten Bäumen. Oben Balkon, unten Veranda, auf der man sich bei einer Tasse Tee entspannen und ins Grüne blicken kann. Und wenn das Kaffeepulver ausgegangen ist? Kein Problem. Ein Supermarkt ist der Nachbar, die Einkaufszone liegt dahinter, ebenso die U-Bahn Station (Hamburg Eidelstedt). Sogar der Flughafen ist in der Nähe. Oft schweben die Maschinen über dem Villendach davon, fernen Ländern entgegen.
Von einer Villa kann man nur schwärmen. Die Menschen, die heute dort „zuhause“ sind, hätten vor einem Jahr nicht geglaubt, dass sie hier ein- und ausgehen würden. Das darf nämlich heute jeder. Die „Alte Villa“ ist ein Begegnungszentrum für alle. Man kann sich hier auf Prüfungen vorbereiten, Radfahren lernen, plattdeutsch sprechen, Kochen, Essen, Nähen, Malen, Fahrräder reparieren, Gemüse und Blumen pflanzen, im Café den Nachmittag verbringen, Tischtennis spielen, Deutsch lernen, häkeln, stricken, tanzen oder Hilfe bekommen, wenn man vor unlösbaren Problemen steht.
Ein Ort des Friedens in einer Welt des Krieges
Wer durch das Haus läuft, kann nur staunen. Überall trifft man freundliche und fröhliche Menschen, die in vielen Sprachen reden und sich irgendwie verstehen. Erst wenn man diesen Menschen etwas näher kommt, merkt man. Sehr viele haben keinen Grund fröhlich zu sein. Die lachenden Frauen, die im ersten Stock Puppen wickeln, Fleecejacken, Nierenwärmer und bunte Unterwäsche produzieren, kommen aus der Ukraine. Die Unterhosen, die sie nähen, haben an den Beinöffnungen Klettverschlüsse. Speziell für Kriegsversehrte, denen die Beine weggeschossen wurden. „Die Sachen, die Sie hier sehen, sind für ein Krankenhaus in Tscherkassy bestimmt“, sagt Tamara Petersen. Seit Jahren nähen die Frauen in Hamburg-Niendorf Sachen für Verletzte in der Ukraine. „Für uns ist das auch eine Arbeitstherapie. Jede von uns hat Angehörige im Krieg, einige haben schon ihre Häuser verloren.“ Die Frauen wissen nicht, wann und wie einmal Frieden in ihrer Heimat sein wird. „Aber egal was passiert, wir helfen weiter. Dass wir ein bisschen helfen können, das tröstet uns“, sagt Tamara Petersen. Und vielleicht helfen auch die Motanka-Puppen, die in der kleinen Werkstatt nach alter Tradition gewickelt – nicht genäht! – werden. Es sind Amulett-Puppen, die nach uraltem Volksglauben Glück und Gesundheit ins Haus bringen.

Möchten Sie selber nähen? Fehlt der Platz? Die Maschine? Das Können? „Hier könnt ihr eure Projekte verwirklichen“, verspricht das Programm der Villa in Niendorf. Ein Loch in er Lieblingshose? Einfach vorbeikommen. Hier wird geholfen. „Afghanistan, Iran, Irak, Palästina Ghana, Somalia, Eritrea, Türkei, Holland, Indien…“ Koordinatorin Heike Schwiderski zählt die Nationen auf, die in der Nähwerkstatt anzutreffen sind. Die meisten kommen aus Flüchtlingscamps, und zwar aus ganz Hamburg. Sprachprobleme? Kein Problem. „Wenn hier alle Maschinen rattern, dann haben wir einen so hohen Lärmpegel, dass man nicht mehr viel versteht“, sagt Heike Schwiderski.
Außerdem: Handwerk braucht nicht viele Worte, geschickte Hände sind wichtiger. Solche Hände hat Najib, ein junger Mann aus Afghanistan. Bei seiner Mutter hat er das Nähen gelernt – oder vielmehr: abgeguckt. „Meine Mama hat mir beigebracht, mit den Augen zu klauen“, erzählt er lachend. Der Mann hat das Zeug zum Polsterer. Gern würde er eine Lehre machen. Das ist nicht einfach. Aber auch für solche Probleme gibt es Hilfe in der Villa des Vereins „Wir für Niendorf“.
Das Traumhaus der vielen Nationen ist nicht von heute auf morgen entstanden. Den Anstoß gab eine Nachricht im Jahr 2015. In allen Städten mussten plötzlich sehr viele Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber aufgenommen werden – auch in Hamburg-Niendorf. „Wir müssen etwas tun“, sagten sich einige engagierte Bürger. Die evangelische Gemeinde lud engagierte Leute an einen „runden Tisch“ ein. „Wir für Niendorf ist gestartet als eine Initiative, wir wurden ein Verein. Aber vor allem sind wir ein Gefüge von Menschen, die gemeinsam etwas füreinander wollen“, sagt der Vorsitzende Sven Trantow. Nach dem ersten Appell fanden sich 100 Ehrenamtliche, die „etwas wollten.“ Zum Anlaufpunkt wurde ein leerstehendes Schulgebäude. Was aber für die Entwicklung entscheidend war: Mehrere und ganz unterschiedliche Partner ziehen am gleichen Strang: die evangelische Kirchengemeinde, der Kinder- und Jugendhilfeverein, das Kunstatelier „The Village“, die Arbeitsgemeinschaft der örtlichen Geschäftsleute, die Stadt – und nicht zuletzt auch die katholische Pfarrei Heilige Josefine Bakhita.
Wie es ist, ein ungebetener Gast in Hamburg zu sein
Berndt Wegner, aktiv in der katholischen St. Ansgar-Gemeinde in Niendorf, gehört zu den Mitgliedern der ersten Stunde. Mehrere Tage in der Woche kreuzt er in der Villa auf. Sein Lieblingsraum ist die „Klön-stuv“, das plattdeutsche Café am Montag. Plattdeutsch sprechen, das heißt: Dazugehören. So hat es Berndt Wegner erlebt, als er nach dem Zweiten Weltkrieg seine Heimat, die westpreußische Grenzmark, verlassen musste und 1958 nach Hamburg kam. „Plattdeutsch war für mich damals der Türöffner“, erinnert er sich. Der gelernte Müller musste im Hafen arbeiten. „Und unter den Hafenarbeitern wurde nur platt gesprochen.“
Was einen Menschen erwartet, der unfreiwillig als Fremder nach Deutschland kommt, das weiß Wegner aus eigener Erfahrung. „Wir Spätaussiedler wurden ja mit der Faust in der Tasche begrüßt“, sagt er. „So darf man Menschen nicht behandeln.“ Deshalb war er sofort dabei, als es hieß: „Wir müssen etwas tun“.
Auf ihr „Wir-Gefühl“ sind die Niendorfer stolz. So etwas gibt es in einer Millionenstadt nicht an jeder Ecke. Und trotzdem: Das Wort „wir“ hat zwei Seiten, wie Pastorin Maren Gottsmann bei der Einweihung der Villa zu bedenken gab. „Wir – was für ein wunderbares Wort, wenn Menschen sich darin wiederfinden. Wenn es einlädt, trägt und ermutigt. Wir gehören zusammen, wir schaffen das, wir sind füreinander da“, sagte sie. Und weiter: „Wir – was für ein furchtbares und unerträgliches Wort, wenn Menschen es nutzen, um Menschen auszuschließen: Wir und ihr. Wir und die. Die einen gehören dazu. Die anderen nicht.“
Wer eine solche Haltung hat, wird um die Niendorfer Villa einen weiten Bogen machen. Aber auch diese Hausgemeinschaft wird erschüttert von beunruhigenden Nachrichten. Gerade in den Wochen vor der Einweihung gab es mehrere Anschläge. In Aschaffenburg tötet ein Mann zwei Menschen. Ein afghanischer Asylbewerber rast in München in eine Menschenmenge. Eine Woche später sticht ein Syrer am Berliner Holocaust-Denkmal einen spanischen Touristen nieder.
Solche Nachrichten machen den friedlichen Flüchtlingen, die aus den gleichen Ländern kommen, Angst. Sie haben keine Sympathie für die Attentäter, aber fürchten mit ihnen identifiziert zu werden. Sven Trantow, Vorsitzender des Vereins „Wir für Niendorf“, spricht von diesem Effekt: „Syrische Gäste und Freunde sagen: Wir schämen uns für die Attentäter. Und gleichzeitig sind sie es, die neben der Bedrohung durch Attentate, die keinen Unterschiede machen zwischen Menschen mit und ohne Migration, zusätzlich von rechter Hetze getroffen werden.“
Gerade in den Zeiten der Angst und des Misstrauens bewährt sich die Villa als ein Ort, an dem man zu differenzieren lernt und sieht: Es gibt auch eine andere Wirklichkeit. „Wenn ich die Nachrichten sehe, ist das deprimierend“, sagt Dagmar Timm (Vorstandsmitglied). „Aber wenn ich hier im Café bin, ist alles ganz anders. Dann bin ich erleichtert.“
Das Haus und seine Bewohner sind längst ein Vorzeige-Projekt. Es gibt viel Lob, aber auch große Unterstützung: Etwa durch die Stadt. Sie hat über ein städtisches Immobilien-Unternehmen die Villa gekauft. Beim Geld setzt der Verein wieder auf das „Wir“. Das Traumhaus wird auch mittels Spenden finanziert. Man kann etwa „Raumpatenschaften“ übernehmen. Damit wird nach und nach ein Raum nach dem anderen erschlossen. Ein Quadratmeter kostet monatlich 20 Euro. Die Gesamtfläche des Hauses beträgt 800 Quadratmeter.
Hintergrund
„Wir für Niendorf e.V.“ ist der Name eines Vereins, in dem sich engagierte Menschen aus Hamburg-Niendorf zusammengefunden haben und heute eine Begegnungsstätte betreiben (Foto: Einweihung im Februar). Zur Idee gehört die Vernetzung vieler Institutionen, Träger und Einzelpersonen. Die „Alte Villa“ im Garstedter Weg 9 hat frei nutzbare Räume, aber auch ein Programm mit zurzeit 14 Aktivitäten. Von 10 bis 21 Uhr gibt es täglich vier bis neun verschiedene Angebote. Leitung und Organisation liegen in der Hand von acht ehrenamtlichen und vier hauptamtlichen Koordinatoren. Die Finanzierung erfolgt unter anderem durch Mitgliedsbeiträge und Spenden, etwa „Raumpatenschaften“.