Hilfe im Ukrainekrieg: Das Caritas-Krisenzentrum in Tscherkassy

"Das ist mein Weg zu überleben"

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Krisenzentrum der Caritas Ukraine in Tscherkassy
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Foto:  Caritas Ukraine

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Sie schenken Hoffnung: Anastasiia Sulieina (vorn) und ihre Kolleginnen und Kollegen des Caritas-Krisenzentrums in Tscherkassy.

Anastasiia Sulieina hat im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ihren Mann, ihren Vater und ihre Mutter verloren. Im Krisenzentrum der Caritas in Tscherkassy hilft sie Menschen, die vor den Angriffen der Russen geflohen sind. Und spürt, wie gut das auch ihr selbst tut.

Die russische Bombe traf das Krisenzentrum der Caritas in Mariupol am 15. März 2022. Anastasiia Sulieina, ihr Mann und ihre Mutter kauerten sich unter die Treppe – und überlebten. Sulieina hatte Glück: nur ein gebrochener Finger. Ihr Mann, das sah sie sofort, war schwer verletzt. Mit ihrer Mutter versuchte sie, ihn aus den Trümmern zu bergen, doch er klemmte fest. Sie gingen los, um Hilfe zu holen, quer durch die verwüstete Stadt. „Es war wie in einem Film über das Ende der Welt“, sagt Sulieina. „Es war die Hölle.“ Sie sah zerstörte Häuser, riesige Krater, verbrannte Bäume. 

Sulieina hat ihren Mann seitdem nie wiedergesehen. Als sie zum Caritas-Gebäude zurückkehrte, sagten Leute ihr, er sei aus dem Schutt befreit und vom ukrainischen Militär in ein Krankenhaus gebracht worden. Doch ob das stimmt, wo er ist und wie es ihm geht, das weiß sie bis heute nicht. „Wir können ihn nicht finden“, sagt sie. Für Sulieina ist das wie eine Wunde: „Und diese Wunde blutet die ganze Zeit.“

Krisenzentrum Sie unterstützt Flüchtlinge: eCaritas-Krisenzentrums in Tscherkassy
Sie unterstützt Flüchtlinge: eine Mitarbeiterin des Caritas-Krisenzentrums in Tscherkassy. Fotos: Caritas Ukraine

Sie erzählt ihre Geschichte in einem Videogespräch. Sie sieht ernst aus, manchmal stockt sie. Sie sagt, es falle ihr schwer, über alles zu sprechen – weil dadurch die Erinnerungen wieder hochkommen. Oft, sagt Sulieina, schaffe sie es kaum, morgens aufzustehen. Zu viel hat sie durchlitten. Sie weint nicht nur um ihren Mann. Sie vermisst auch ihren Vater. Er gehörte zu den Verteidigern des Asowstal-Werks in Mariupol, die sich nach wochenlangen Kämpfen den Russen ergaben – und ist nun in russischer Gefangenschaft in der annektierten Region Luhansk. Ein paar Mal, sagt sie, habe er sie angerufen: „Er hat gesagt, dass er okay ist. Aber es war für ihn eine Tragödie, als ich ihm erzählt habe, dass meine Mutter gestorben ist.“ Vor einem Jahr erlag sie dem Krebs.

Sulieina (31) aber gibt nicht auf. Aus ihrer Heimatstadt Mariupol ist sie geflohen, sie hat unterwegs 20 Tage in einem Bunker unter einem Krankenhaus gelebt, und angekommen ist sie in Tscherkassy. In der Großstadt in der Mitte der Ukraine leitet sie seit Oktober 2022 das Krisenzentrum der Caritas. Mit ihrem siebenköpfigen Team unterstützt sie Menschen, die vor den Angriffen der Russen geflohen sind. Wenn sie ankommen, gibt sie ihnen Lebensmittel- und Hygienepakete und vermittelt einen Platz in einer Notunterkunft. Wenn sie bleiben, hilft sie ihnen, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Das sei schwierig, sagt sie, denn die Mieten in der Stadt seien hoch. Um den Start zu erleichtern, kauft sie den Menschen manchmal Geräte, die sie brauchen, eine Mikrowelle zum Beispiel.

Vor allem aber redet sie mit den Menschen. Sie sagt, viele seien krank, Krebs sei häufig. Den meisten gehe es auch psychisch schlecht. Tscherkassy sei bisher ein sicherer Ort, doch die Flüchtlinge fragten ständig: „Was, wenn der Krieg auch hierhin kommt? Was, wenn auch hier Bomben fallen?“ Sulieina versucht, ihnen nach all dem Horror, den sie erlebt haben, Stabilität zu geben. Sie macht mit ihnen einen Plan, das hilft. Erster Schritt, zum Beispiel: Heute suchen Sie eine Wohnung. Zweiter Schritt: Morgen melden Sie Ihre Kinder in der Schule an. Dritter Schritt: Übermorgen kaufen Sie Geschirr und Besteck. 

In der Ukraine ist nichts stabil. Was hier passiert, 
ist die Hölle.

Stabilität, das erklärt Sulieina den Menschen oft, sei jetzt das Wichtigste in ihrem Leben: „Denn überall um sie herum ist in der Ukraine nichts stabil. Was hier passiert, ist die Hölle.“ Erst wenn die Menschen stabil seien, könnten sie sich einen Job suchen oder einen Studienplatz; erst dann könnten sie im Chaos des Krieges eine Perspektive finden. Sulieina merkt oft, wie schwierig das ist. Aber sie spürt auch, wie die Gespräche helfen. Wenn die Menschen anfangen zu erzählen, was die Russen in ihrer Heimat angerichtet haben, in Cherson oder Charkiw oder wo auch immer, sagt sie ihnen: „Ich bin aus Mariupol. Ich verstehe euch.“ Dann sehe sie in den Augen der Menschen: Die merken, dass sie sie wirklich versteht.

„Für mich ist es wichtig, Menschen zu helfen“, sagt Sulieina. „Das ist mein Weg zu überleben. Ich gebe den Menschen etwas, aber ich bekomme so viel mehr von ihnen zurück.“ Natürlich hört sie die schlechten Nachrichten von der Front, und sie denkt oft darüber nach, warum sie bleibt – in dem Land, das Russlands Präsident Wladimir Putin vernichten will. „Das ist hart“, sagt Sulieina. „Aber es ist unser Land, und wir werden hier bleiben bis zum Ende. Wir halten zusammen.“ 

Wenn die Wirklichkeit sie zu sehr bedrückt, geht sie mit ihrem Hund spazieren. Ihr Psychologe hat ihr dazu geraten, und sie sagt, es helfe ihr: „Es gibt mir Energie.“ Sie liebt die Natur in Tscherkassy mit ihren Wäldern und dem Fluss Dnjepr. Manchmal arbeitet sie auch einen Tag lang von zu Hause aus. Die Wohnung, die sie gemietet hat, tut ihr gut: „Sie ist meine Insel der Sicherheit.“ 

Am meisten Mut aber gibt ihr, wenn sie träumt. Sulieina sagt: „Ich träume davon, dass dieser Krieg enden wird. Ich träume davon, dass alle Menschen, die überleben, das Land neu aufbauen und dann ein besseres Leben haben. Ich träume davon, dass die Kinder der Ukraine nie mehr das Geräusch von Bomben hören müssen.“ Für diesen Traum steht sie dann doch jeden Tag wieder auf. Und tut, was sie kann.

Andreas Lesch