Vatikan und das Menschenrecht

„Die Kirche hat noch eine Lerngeschichte vor sich“

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UN verabschiedet Menschenrechtserklärung
Nachweis

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Entscheidender Fortschritt: Am 10. Dezember 1948 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet.

Vor 75 Jahren haben die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Der Vatikan hat sie nicht angenommen. Warum? Und wie hat sich das Verhältnis der Kirche zu den Menschenrechten entwickelt? Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins gibt Antworten.

Der Vatikan hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor 75 Jahren nicht angenommen. Warum nicht?

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist eine Resolution, kein völkerrechtlich bindender Vertrag. Diese Erklärung konnte man nur in dem Moment, in dem sie verabschiedet wurde, entweder annehmen oder nicht annehmen. Dass der Heilige Stuhl als ständiger Beobachter bei den Vereinten Nationen diese Resolution nicht angenommen hat, lag wohl vor allem daran, dass die Erklärung keine religiöse Verankerung, keinen Rückbezug der Menschenrechte auf Gott formuliert. 

Warum tut sie das nicht?

Der Verzicht auf eine religiöse Begründung war der Preis dafür, dass die Völkergemeinschaft überhaupt eine solche gemeinsame Erklärung zu den Menschenrechten beschließen konnte. Es mussten ja sehr unterschiedliche ideologische Strömungen unter einen Hut gebracht werden. Damit fehlte aber eine Letztbegründung, die unter anderem aus Sicht der katholischen Kirche für ein so grundlegendes rechtlich-moralisches Normenwerk als unverzichtbar galt.

Aber die Kirche hatte damit nicht nur deswegen ein Problem, oder? 

Marianne Heimbach-Steins
Marianne Heimbach-Steins, Professorin für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Münster. Foto: kna/Harald Oppitz

Um die Reserve der Kirche vor allem gegenüber den individuellen Freiheitsansprüchen zu verstehen, muss man in die Geschichte schauen: Die europäische Menschenrechtsgeschichte der Moderne ist wesentlich durch die Französische Revolution und ihre Nachgeschichte geprägt. Die Kirche galt, kurz gesagt, als Teil der alten Macht, die den bürgerlichen Freiheiten entgegenstand. Deshalb wurde ihr Einfluss zurückgedrängt. Die Päpste des 19. Jahrhunderts haben die modernen, individuellen Freiheiten, die die Französische Revolution erstritten hat, harsch verurteilt. Sie sahen den menschlichen Anspruch auf Autonomie als Angriff auf die Wahrheit, die Autorität Gottes und der Kirche. Das hat zu einer regelrechten Blockade geführt, wenn es um die Anerkennung von Freiheitsansprüchen der Einzelnen ging. 

Was war das Problem der Kirche mit der Freiheit?

Es ging nicht um Freiheit an sich, sondern darum, wie man sie versteht. Ist die Freiheit mit einer moralischen Ordnung verbunden? Oder ist sie etwas Willkürliches? Die Kirche und die Vertreter der Menschenrechte gingen von sehr unterschiedlichen Freiheitsverständnissen aus. Mehrere Päpste des 19. Jahrhunderts haben vor allem die Religions- und Gewissensfreiheit verdammt, weil sie darin eine individualistische Loslösung vom Anspruch der göttlichen Wahrheit witterten. Dabei ging es natürlich auch um den eigenen kirchlichen Anspruch, diese Wahrheit gültig zu vertreten. Freiheitsrechte und -ansprüche wurden vor allem als Angriff auf die richtige, religiös verankerte Ordnung und die sie garantierende Autorität verstanden.

Wann hat sich diese Sicht verändert?

Einen ersten Schritt sehen wir im späten 19. Jahrhundert: Vor dem Hintergrund der Industrialisierung verteidigt die frühe Soziallehre der Kirche die sozialen Rechte der Arbeiter, vor allem ihr Recht auf Lebensunterhalt, auf einen gerechten Lohn und die gemeinschaftliche Vertretung ihrer Interessen. Ein zweiter wichtiger Schritt zeigt sich in der Auseinandersetzung mit den totalitären und faschistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts. In den päpstlichen Schreiben der späten 1930er Jahre werden die Würde und die Freiheit der Person gegen staatliche Übergriffigkeit und Unterdrückung verteidigt. Der Durchbruch zur ausdrücklichen Anerkennung der Menschenrechte wurde in den 1960er Jahren, 15 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen, erreicht.

Inwiefern?

Als Reaktion auf die Kubakrise 1962 veröffentlichte Papst Johannes XXIII. im Frühjahr 1963 die Enzyklika Pacem in terris. In diesem Friedens- und Menschenrechtsdokument würdigt er ausdrücklich die Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Man könnte das als eine Art nachholende Anerkennung verstehen. Das war während des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es ist kein Zufall, dass viele Konzilstexte menschenrechtlich argumentieren. Besonders hervorzuheben ist die Erklärung zur religiösen Freiheit, mit der sich die Kirche dieses Freiheitsrecht ausdrücklich angeeignet hat.

Wie hat sie das geschafft?

Sie hat das Verhältnis von Freiheit und Wahrheit aus den politischen Grabenkämpfen der Vergangenheit gelöst und theologisch neu durchdacht. Die Grundeinsicht lautet: Die Wahrheit kann nur in Freiheit angenommen werden. Es braucht die geistige Freiheit, die Gewissensfreiheit, um sich als Person der Wahrheit öffnen und annähern zu können.

Damit bedeutet Freiheit aber auch, sich gegen eine Religion entscheiden zu können.

Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit schließt ebenso das Recht ein, sich zu einer Religion zu bekennen, wie auch, sich nicht dazu zu bekennen oder die eigene Religion zu wechseln. Das ist für viele Religionsgemeinschaften eine Zumutung. Aber es ist konsequent, wenn man den Zusammenhang von personaler Freiheit und Wahrheitseinsicht ernst nimmt. 

Wie sehen Sie das Verhältnis Kirche und Menschenrechte heute?

Die mühsame Lerngeschichte der Kirche in Sachen Menschenrechte ist längst nicht abgeschlossen. Das Thema ist nach wie vor ambivalent, etwa bei der Verwirklichung von Frauenrechten in der Kirche selbst oder wenn es um die Anerkennung von Menschen mit diverser Geschlechtsidentität geht. Aber die katholische Kirche ist zugleich auch eine ausgesprochene Verteidigerin der Menschenrechte, etwa wenn es um Bildungsbeteiligung, soziale Sicherheit, die Rechte indigener Gruppen oder den Schutz des Friedens geht. 

Auch die Haltung der Kirche zum Thema Lebensschutz ist in der Gesellschaft umstritten.  

Lebensschutz wird in Teilen der Kirche – und auch in der Außenwahrnehmung der kirchlichen Position – oft enggeführt auf das Thema Abtreibung. Es geht aber auch um den Schutz am Ende des Lebens und auch um so wichtige Themen wie Folter und Todesstrafe. So hat der Heilige Stuhl die Anti-Folter-Konvention unterschrieben, Papst Franziskus hat die Position zur Todesstrafe im Katechismus der katholischen Kirche mehrfach verschärft bis hin zur absoluten Ächtung im Jahr 2018. Und schließlich gehört zum Lebensschutz unbedingt der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Dazu vertritt die Kirche eine sehr klare Position. 

Wo sehen Sie heutige kirchliche Schwerpunkte beim Thema Menschenrechte? 

Ganz sicher bei den gerade genannten großen Themen und generell im Einsatz dafür, dass die sozialen Menschenrechte nicht unter die Räder kommen, gerade in einer Phase, in der der wirtschaftliche Druck wächst. Hier hat die Kirche – lokal wie global – eine wichtige Stimme. Die Caritas und die internationalen katholischen Hilfswerke sind starke Akteure, die bei diesen Themen auch öffentlich Druck machen können. Wenn die Kirche den Finger in die Wunden legt, ist das ein nicht zu unterschätzender Einsatz für die Menschenrechte. 

Was ist mit den Freiheitsrechten?

Die Kirche hat hier unausgeschöpfte Potenziale und noch eine Lerngeschichte vor sich, gerade wenn es um Frauenrechte, Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt und Minderheitenrechte geht. 

Wie kann das gelingen?

Indem kirchliches Engagement ein starkes Verständnis von Freiheit unterstützt, das nicht Beliebigkeit meint, sondern auf die moralische Einsicht und die Fähigkeit der Menschen vertraut, Verantwortung zu übernehmen. Gerechtigkeit und Freiheit funktionieren nur im Tandem.
 

Barbara Dreiling