Suizidgedanken

Ein Gespräch kann Leben retten

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Mann sitzt allein in einem Raum
Nachweis

Foto: istockphoto/Ben Goode

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Wer sich mit Suizidgedanken beschäftigt, sollte unbedingt das Gespräch mit einer vertrauten Person suchen. 

Sowohl für Menschen mit Suizidgedanken als auch für
Angehörige, die einen Menschen durch Suizid verloren haben,
ist das offene Gespräch unerlässlich. Hinweise auf einen
möglichen Suizid sollten Eltern unbedingt ernst nehmen und darüber reden, sagt eine Fachärztin.

Suizid? Schlechtes Thema. Besser nicht darüber nachdenken und nicht darüber sprechen – schon gar nicht mit jemandem, der Suizidgedanken hat. Das könnte die Situation ja vielleicht noch verschlimmern. „Grundfalsch, ja sogar gefährlich ist diese Ansicht“, sagt Sonja Liebig, Leiterin der Würzburger Fachstelle Suizidberatung. Stattdessen rät die Diplom-Sozialpädagogin zu einem offenen Gespräch, denn: „Über Suizid sprechen kann eine große Entlastung für Menschen mit suizidalen Absichten darstellen, die innere Spannung abbauen, alternative Handlungsoptionen aufzeigen und damit lebensrettend sein!“

ZAHLEN

Laut Schätzung der Weltgesundheitsorganisation sterben jährlich rund 800 000 Menschen weltweit durch Suizid. In Deutschland sind es jedes Jahr 9000 Menschen, das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen. Die Zahl der versuchten Suizide wird auf mehr als 20-mal so hoch geschätzt. Jugendliche gehören dabei – gemeinsam mit alten Menschen – zu den größten Risikogruppen. Und durch die Pandemie ist die Not der Jugendlichen offenbar nochmals gestiegen: „Die Anfragen von Jugendhilfeeinrichtungen nach Schulungen zum Umgang mit Jugendlichen in akuten und suizidalen Krisen haben sich verdreifacht“, berichtet Sonja Liebig. „Viele Eltern schildern uns, dass ihre Kinder große Probleme haben, den gestellten Anforderungen in Schule und Beruf gerecht zu werden. Häufig findet sozialer Rückzug statt, dem die Eltern verunsichert gegenüberstehen.“ Dazu kämen hoher Medienkonsum und Suchtmittelgebrauch.

PRÄVENTION

Umso wichtiger sind Prävention, Aufklärung und die Enttabuisierung des Themas. Christiane Engelhardt ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Für sie ist das Thema zu einer Lebensaufgabe geworden: Vor 26 Jahren musste sie den Suizid ihrer Tochter Hanna verkraften, die damals 13 Jahre alt war. „Als die Polizei mir mitteilte, dass Hanna sich auf die Bahngleise in der Nähe ihrer Schule gelegt hatte, hatte ich das Gefühl, dass es mein Herz zerreißt und mit einem Schlag die gesamte Energie aus meinem Körper schwindet“, sagt sie in Erinnerung an den Tag, der das Leben der gesamten Familie zum Stillstand brachte. Das Schlimmste für sie selbst seien die Schuldgefühle gewesen und die tiefe Scham, als Mutter und Therapeutin versagt zu haben. Immer wieder habe sie sich gefragt, ob sie Hannas Tat hätte verhindern können.
Genau erinnert sie sich an ein hoffnungsvolles Frühlingsgedicht ihrer Tochter drei Wochen vor dem Suizid. Und an die Frage „für eine Freundin“ nach der Verfügbarkeit von Schmerztabletten zwei Tage zuvor. Spontan habe sie nachgefragt: „Willst du Tabletten schlucken?“ Doch Hanna habe die Frage mit den Worten abgeschmettert: „Dich kann man nichts mehr fragen, du denkst immer nur das Schlimmste!“

PUBERTÄT

Hinweise auf einen möglichen Suizid sollten Eltern unbedingt ernst nehmen, so Engelhardt. Dies gelte besonders für die Entwicklungsphase der Pubertät, die geprägt sei von einer hohen Verletzlichkeit, einem schwankenden Selbstwertgefühl, großen Sinnfragen, hoher Energie, einem veränderten Umgang mit Körperlichkeit und dem Wunsch, sich abzugrenzen und auszuprobieren.

ANKÜNDIGUNGEN

„Fast alle Jugendlichen kündigen ihren Suizid vorher an“, sagt die Therapeutin und Begleiterin; meist nicht den Eltern, sondern einem Mitschüler, einer Freundin oder einer Internetbekanntschaft. Auf direkte Ankündigungen („Ich lege mich vor den Zug.“ „Ich bringe mich um“) und indirekte Ankündigungen („Ich will nur noch meine Ruhe haben.“ „Ich hau einfach ab“) im Umfeld sollte man sofort reagieren. Auch bei Äußerungen wie „Ich kann nicht mehr durchatmen“ oder „Mir fehlt die Luft zum Leben“ sollten die Alarmglocken schrillen. Warnzeichen sind auch Abbrüche von Freundschaften, Leistungsabfall, das Weggeben lieb gewonnener Dinge wie Kuscheltiere, vermehrtes Schulschwänzen, anhaltende Hoffnungslosigkeit sowie psychosomatische Beschwerden wie Konzentrations- und Schlafstörungen, anhaltende Kopf- und Bauchschmerzen oder Appetitlosigkeit. Besonders heikle Risikofaktoren sind zudem sexuelle Übergriffe, die häufig verschwiegen werden, und Drogenkonsum.

IN KONTAKT BLEIBEN

Für Eltern ist der Umgang mit den nach Freiheit strebenden Jugendlichen ein Drahtseilakt. Wie viel Kontrolle und wie viel Freiheit angebracht sind, müsse jede Familie selbst ausloten, so Engelhardt. Und auch wenn elterliche Einmischung unerwünscht ist, rät sie dazu, mit dem Nachwuchs in Kontakt zu bleiben. Konkret bedeutet das:
» Suchen Sie immer wieder das Zweiergespräch in ungezwungenen Situationen.
» Hören Sie zu und nehmen Sie die Gedanken Ihres Kindes ernst.
» Treffen Sie Absprachen.
» Bringen Sie die eigene Sorge zum Ausdruck.
» Thematisieren Sie geäußerte Suizidgedanken und fragen Sie konkret nach.
» Vermeiden Sie belehrende Ratschläge von oben herab, sprechen Sie auf einer Ebene.
» Unterstützen Sie Ihr Kind beim Aufsuchen professioneller Hilfsangebote.

HILFE ANNEHMEN

Auch jenen, die einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben, empfiehlt Engelhardt vor allem, Hilfe anzunehmen. Damit Angehörige sich nicht in Schuld und Selbstvorwürfen verfangen, verquere Erklärungsversuche konstruieren, sich komplett isolieren und einen Folgesuizid in Erwägung ziehen, sei das offene Gespräch unerlässlich. „Betonen Sie dabei, dass es entsetzlich ist, was passiert ist, dass der Tote sich jedoch für sich selbst und nicht gegen jemanden entschieden hat.“ Unbedingt vermeiden sollten Nahestehende das Wort „Selbstmord“, weil es den Suizid auf eine Ebene mit einem Verbrechen stellt. Den Entschluss des Verstorbenen zu respektieren und sich auf eigene Ressourcen und die eigene Resilienz zu besinnen, eröffne zugleich den Weg in das Leben nach und mit dem Suizid. Denn: Jeder Mensch, der auf diese Weise einen nahestehenden Menschen verloren hat, „darf die Hoffnung haben, dass der Suizid nicht das Ende ist, sondern der Beginn eines neuen Weges und einer neuen Lebensaufgabe“.

Christiane Engelhardt: Lebensaufgabe – Wenn mein Kind nicht mehr leben will. Bonifatius, 2023, 24 Euro.

Anja Legge