Geflüchtete Ukrainer finden Schutz bei der Caritas in Tiflis

Ein kleines bisschen Glück

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Der 85jährige Anatoli floh vor dem Krieg in der Ukraine
Nachweis

Foto: Zviad Rostiashvili/Caritas Georgien

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85jährige Ukrainer Anatoli lebt nun in einer Caritas-Unterkunft in Tiflis

In einer Notunterkunft der Caritas in Tiflis leben Menschen aus der Ukraine und Russland zusammen. Sie sind vor Wladimir Putins Vernichtungskrieg geflüchtet – und dankbar dafür, dass sie im Nachbarland Hilfe bekommen.

In Tiflis sind deutlich weniger ukrainische Flaggen zu sehen als noch vor einem Jahr. Vereinzelt klebt an Autos die Aufschrift #staywithurkraine oder eine halb georgische und halb ukrainische Flagge, an öffentlichen Wänden leuchten noch Graffitis in Blau und Gelb. Ansonsten sind die Menschen ernüchtert und zugleich vorsichtig. Viele glauben, dass sie die Politik von Wladimir Putin nicht beeinflussen können, und haben Sorge, was ihre Proteste auslösen könnten. Die Regierung möchte einen militärischen Konflikt vermeiden, denn dieser würde den Wunsch der Aufnahme in die Nato in weite Ferne rücken lassen.

Georgien hat etwa so viele Einwohner wie Berlin und ist Transit- und Zielland für Menschen unterschiedlicher Herkunft. Von den 160 000 aus der Ukraine nach Georgien geflüchteten Menschen sind nach Angaben von Caritas International 25 000 dauerhaft dort geblieben. Aus Russland kamen noch mehr Geflüchtete: 220 000 Menschen, die sich vom Krieg distanzieren oder der Einberufung des Familienvaters entgehen wollen. 100 000 russische Geflüchtete sind in Georgien geblieben, die meisten in Tiflis.

Im Januar dieses Jahres wurde die letzte staatliche Notunterkunft geschlossen. Entsprechend umkämpft ist der Wohnungsmarkt. Die Mietpreise haben sich vervielfacht, im Schnitt um 210 Prozent. Oft wird den Mietern fristlos gekündigt, um die Wohnung teurer vermieten zu können. Die georgische Regierung stellt als Hilfe monatlich 300 Lari (100 Euro) zur Verfügung sowie die kostenfreie Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs.

„Sie haben in den Trümmern nach Nahrung gesucht“

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR koordiniert die zivilgesellschaftlichen Hilfen in Tiflis. In diesem Netzwerk ist die Caritas Georgien der einzige Anbieter einer Notunterkunft für Geflüchtete. Das Projekt wird von Caritas International unterstützt.

An einer schmalen Metalltür mitten in der Stadt ist das Caritas-Logo fast unsichtbar für jemanden, der zufällig vorbeikommt. Ein Gang führt zu einem Hinterhaus, in dem 21 Geflüchtete aus der Ukraine leben. 21 Menschen, deren Leben sich seit Februar 2022 komplett verändert hat.

Eine der ältesten Bewohnerinnen ist Nadieschka aus Luhansk. Die 83-Jährige wohnte auf russischer Seite im fünften Stock. Sie sagt: „Ich konnte von meiner Wohnung aus auf die Frontlinie gucken.“ Zu Beginn des Krieges versteckte sie sich im Keller, bis eines Tages eine Bombe das Gebäude zerstörte. Gemeinsam mit ihrer Tochter und deren Familie beschloss sie am 9. März, Luhansk zu verlassen. „Ich habe auf die letzte Rente gewartet und wir sind mit einem Sammelauto zunächst nach Russland zu Freunden geflüchtet“, erzählt sie. Als dort drei weitere Familien unterkamen, wurde es zu eng. Sie zogen weiter und leben nun seit drei Monaten hier in dieser Einrichtung.

Anatoli aus Donezk hat nach Kriegsbeginn 40 Tage gemeinsam mit 300 Personen in einem Keller verbracht. Er erzählt: „Die jungen Menschen haben in den Trümmern zeitweise nach Nahrung und Medikamenten gesucht. Exkremente haben wir in einem Topf gesammelt und aus einem winzigen Fenster geschüttet. Aus unserer Gruppe starben 15 Menschen, zwei nahmen sich das Leben.“ Als sie den Keller verlassen konnten, habe er sich für Georgien entschieden, „weil ich als Kind mit meinem Vater dort war und das Land in guter Erinnerung hatte“.

Anatoli wohnt seit über einem Jahr in der Notunterkunft. Eigentlich ist die Hilfe auf ein halbes Jahr ausgelegt, doch mit seinen 85 Jahren ist es für ihn schwer, eine andere Bleibe zu finden. 80 Geflüchtete haben die Notkunterkunft bereits wieder verlassen. Die meisten sind in Tiflis und Umgebung geblieben. 

„Die Menschen haben meinem Sohn Geschenke gemacht“ 

Die Ukrainer sind dankbar, dass sie in Tiflis leben können. In der Einrichtung teilen sich die Familien ein Zimmer, von den 300 Lari kaufen sie ein und kochen in der Gemeinschaftsküche. Sie bekommen medizinische Versorgung und Unterstützung etwa bei der Suche nach Kita- oder Schulplätzen oder einem Job. Sieben Bewohner haben mittlerweile Arbeit im Supermarkt oder auf einer Baustelle. Die Firmen hatten eine Initiative gestartet und das Ministerium um eine Sondergenehmigung für eine Arbeitserlaubnis gebeten. Regulär sind Arbeitserlaubnis und Sozialleistungen an eine Aufenthaltsgenehmigung gekoppelt.

In der Notunterkunft gibt es auch psychosoziale Betreuung mit Gruppen- und Einzelangeboten. Davon profitiert die sichtbar magersüchtige Julia. Die 36-Jährige stammt aus Cherson und ist mit ihrem Sohn Nikita nach Tiflis geflüchtet. Später kam ihr Mann nach. Die Familie hat noch keine eigene Wohnung gefunden, ist aber bereits gut vernetzt. „Unter unseren Bekannten sind viele Russen. Sie sind gegen den Krieg. Ein Freund hat uns erzählt, dass er jeden Tag einen Anruf bekommen hat, er solle zur Musterung kommen – bis er geflüchtet ist“, sagt sie. Sie habe ein gutes, mittlerweile freundschaftliches Verhältnis zu ihm: „Der Krieg geht uns als Volk nichts an. Den macht die Politik.“

Julia sagt, sie sei von den Menschen in Georgien sehr herzlich empfangen worden. „Die Menschen waren sehr zuvorkommend und haben meinem Sohn Geschenke gemacht. Und auch hier in der Unterkunft fühlen wir uns wie eine große Familie.“ Im gemeinsamen Küchenkalender steht für Freitag der Eintrag „Happy Day“. Es ist Nikitas sechster Geburtstag. Ein kleines bisschen Glück.

Die Autorin dieses Textes leitet die Unternehmenskommunikation des Landes-Caritasverbandes Bremen.

Simone Lause