„Er allein kann heilen“

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Christen aus Hamburg-Bergedorf und Umgebung beginnen die Karwoche mit einem lebensnahen und bedrückenden Kreuzweg. Er führt kilometerlang durch das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme


Kreuzweg Neuengamme, vorletzte Station: die Rampe an der Tongrube und der Ziegelfabrik. | Foto: Andreas Hüser

Wer in den Vierlanden um sich blickt, glaubt nicht, dass er sich in einer Großstadt befindet. Marschen und Felder reichen, soweit das Auge blickt, durchzogen von Deichen, an denen Häuser stehen. Hamburg, wo es am stillsten und friedlichsten ist. So ist es heute. Von 1938 bis 1945 war diese Umgebung die Hölle – für 100 000   KZ-Häftlinge, die im Konzentrationslager Neuengamme und seinen 86 Außenlagern gefangen waren. 91 Prozent von ihnen waren keine Deutschen, sondern kamen aus den von Deutschland besetzten Ländern. Sie wurden in Arbeitskommandos im Kanalbau, in Tongruben, in der Rüstungsproduktion eingesetzt, aber auch für medizinische Experimente missbraucht. 42 000 von ihnen überlebten das Lager nicht. 

Seit inzwischen 40 Jahren geht und betet die katholische Gemeinde St. Marien, Bergedorf am Palmsonntag den Kreuzweg rund um das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme. Der Kreuzweg ist ökumenisch, viele Gemeinden schließen sich an. In diesem Jahr gingen und beteten 100 Menschen mit. Mit Pastor Ferdinand Moskopf war eine Gruppe Firmlinge aus der Pfarrei Heiliger Martin dabei. 

Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Leiden Christi und dem Leiden im Konzentrationslager, sagte Diakon Stefan Mannheimer am Beginn des Weges. Nicht nur, dass die Todesqualen vieler Häftlinge in Neuengamme nicht viel weniger grausam waren als die Kreuzigung Jesu. Jesus Christus ist den Gequälten nahe. „Er allein kann heilen, was wir nicht heilen können. Er allein kann zum Guten führen, was wir nicht wieder gutmachen können.“ 

Der Weg über das 50 Hektar große Gelände ist in jedem Jahr der gleiche. Mehrere Kilometer lang gehen die Beter schweigend und machen an neun Stationen halt. Etwa am Appellplatz, wo bis 1945 ein Galgen stand. Dort wurden vor den Augen aller Häftlinge Exekutionen durchgeführt. Wenn ein Gefangener geflohen war, mussten alle anderen auf dem Appellplatz ausharren, bis der Häftling wieder eingefangen war, oft bis tief in die Nacht. 

Schlamm schaufeln bis zur Erschöpfung

Ein anderer Ort ist das Kanalbecken – an Kanälen des „Kommandos Elbe“ mussten die KZ-Insassen Schlammberge von einem Ort zum anderen schaufeln, oft durchnässt oder im kalten Wasser stehend. Was in Neuengamme Arbeit genannt wurde, war nie produktiv: Einziges Ziel war, Menschen zu demütigen, zu schikanieren und am Ende zu brechen.

Der „Schonungsblock“, ein zweistöckiger Klinkerbau, war für Entkräftete reserviert. Zeitweise waren 3000 Häftlinge in diesem Block eingepfercht. Der Zeitzeuge Odd Nansen aus Norwegen schreibt dazu: „Da herrscht ein Elend, das alle Grenzen und Begriffe sprengt. In jedem Bett lagen drei bis vier, ka auch fünf oder sechs Mann. Sie lagen allerdings aufeinander. Die meisten waren nur Skelette und brauchten nicht viel Platz. Sie lagen nur da, um zu sterben. Viele waren bereits tot.“  

Zeugnisse von Überlebenden wie dieses sind Teil des Kreuzwegs. Jede Station beginnt mit der „klassischen“ Station und einem Abschnitt des Passionsberichts aus dem Markusevangelium, den Abschluss bildet ein Psalm. „Entreiß mich denen, die Unrecht tun, rette mich vor den Mördern! Sieh her: Sie lauern mir auf, Mächtige stellen mir nach.“ Worte wie diese aus Psalm 59 bekommen ein besonderes Gewicht an diesem Ort, an dem fast alle anderen Worte deplatziert wirken. 

Zur neunten und letzten Station sammeln sich die Kreuzweg-Geher am Mahnmal an der nördlichen Grenze des Lagers. Der biblische Text erzählt, wie drei Frauen an das Grab Jesu kommen. Sie finden das Grab leer und den Stein weggewälzt. Eine weitere Unheilsbotschaft? Oder ein Zeichen der Hoffnung? Die Christen, die am Mahnmal stehen, glauben an das Unglaubliche, die Auferstehung Jesu, die Auferstehung der Geschundenen und der Toten. Sie singen zum Abschluss: „Christ ist erstanden von der Marter alle. Des solln wir alle froh sein. Christ will unser Trost sein!“

Von Andreas Hüser