Reinhold Beckmann: Geschichtsaufarbeitung mit Feldpost
Für immer vermisst
Foto: Beckmann privat
Als Aenne Haber 1921 in Wellingholzhausen in der Nähe von Osnabrück geboren wird, scheint die Welt in Ordnung zu sein. Das Dorf mit den 3000 Einwohnern ist ein fast idyllischer katholischer Mikrokosmos. Wenn da nicht der Erste Weltkrieg gewesen wäre, aus dem viele Männer, auch Aennes Vater, krank zurückkehrten.
Mehr als hundert Jahre später hat ihr Sohn Reinhold Beckmann ein Buch über Aenne und ihre Brüder Hans, Alfons und Franz geschrieben. Mit ihnen konnte sie nur ein Viertel ihres fast hundertjährigen Lebens verbringen: Alle sind im Zweiten Weltkrieg gefallen und in fremder Erde oder unbekannt bestattet. Auch deshalb bewahrt Aenne die 90 Feldpostbriefe ihrer Brüder wie einen Schatz und übergibt sie kurz vor ihrem Tod ihrem Sohn.
Der Schuhkarton voller Briefe ist der Ausgangspunkt. „Die Traurigkeit aussprechen, das hat meine Mutter gekonnt“, schreibt Beckmann, der auch viele ihrer Gespräche aufgezeichnet hat.
Beckmann stellt die familiären Ereignisse in den Rahmen der Zeitgeschichte und ihrer Auswirkungen auf ein kleines Dorf im Osnbarücker Land. Die Nazis haben es hier schwer, denn die Leute sind katholisch und alles, was nicht in der Kirche gepredigt wird, erscheint suspekt. Nicht nur für Aennes späteren Stiefvater Josef Hölscher ist Politik eine Glaubensfrage. Über die Leute in der Kreisstadt Melle, die mehr für die Nazis übrighaben, soll er gesagt haben: „De gläubet mähr an den Hitler.“
Keine Begeisterung, kein offener Protest
In Wellingholzhausen wächst die Sympathie für die Nationalsozialisten nur langsam. Großen Anteil daran hat der Pfarrer des Ortes, August Riese, für den die Nazis der Inbegriff des Bösen sind. Öffentlich spricht er von „Angst und Not“ des Kriegs, der „die Völker und Nationen in ihrem Bestande bedroht“, und bittet Gott: „Stürze den Satan und die anderen bösen Geister, die in der Welt umherschweifen, um die Seelen zu verderben.“ Doch Beckmann schreibt auch, wie Menschen mit Behinderungen abgeholt wurden; über die Euthanasie erzählte man nur hinter vorgehaltener Hand, offen protestiert hat niemand.
In den Feldpostbriefen, die Aenne von ihren Brüdern erhält, geht es oft um Alltägliches, die Grausamkeit des Krieges steht meist zwischen den Zeilen. Doch manchmal werden die Brüder deutlich. Im März 1944 ist Franz dankbar um jeden Tag, an dem er noch am Leben ist: „Liebe Schwester Aenne! Der Krieg hier im Norden hat sich in den letzten Wochen mächtig geändert. Hast sicherlich auch schon von der Absetzbewegung gehört. Wir wünschen nur daß dieser elende, grausame Krieg bald ein Ende nimmt (…) Heute hatte ich nochmal Glück. Um ein Haar und wir wären alle tote Infanteristen geworden.“
Je nachdem, woher die Briefe der Brüder stammen, hat Beckmann die Feldchroniken ehemaliger Wehrmachtssoldaten ausgewertet – und gibt an vielen Stellen die ganze Absurdität des Krieges wieder. Auch die Absurdität der Sprache. So teilt im September 1943 die Wehrmacht Aennes Familie mit, dass Sohn Alfons als vermisst gilt. „Alle in Stalingrad verlorenen Soldaten sind als „vermisst“ einzustufen“, schreibt Beckmann. „Es ist ein Missbrauch des tiefen Gefühls, das Vermissen bedeutet, das schöne Wort wird zum reinen Verwaltungsbegriff.“
Wie sich die Bedeutung von „vermisst“ für Aenne verändert hat, wird deutlich, wenn Beckmann erzählt, warum seine Mutter es nicht ertrug, Schlager aus der NS-Zeit später im Radio oder Fernsehen zu hören. Es habe sie, schreibt Beckmann, an ihre Brüder erinnert. Es war „dieses schmerzende Gefühl, dass da etwas unvollständig bleibt und nie abgeschlossen sein wird“.
Der Alltag lief weiter: Schule, Ausbildung, Ehe, Kinder. Doch in der Tiefe war das Leben ein einziges Vermissen der Toten. Das Buch würdigt diese Erfahrungen. Dass er die historischen Ereignisse auf dem Hintergrund des Dorfes erzählt, macht das Buch spannend und lesenswert. Und unweigerlich stellt sich beim Lesen die Frage: Wie verlief die Geschichte in meinem Dorf, meiner Stadt, meiner Familie?
Reinhold Beckmann: Aenne und ihre Brüder. Die Geschichte meiner Mutter. Propyläen. 352 Seiten, 26 Euro