Interview mit Wolfgang Thierse über den Schutz der Demokratie

"Hin und wieder gibt es Wunder"

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Wolfgang Thierse steht bei einer Demonstration vor dem Bundestag in Berlin
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Foto: imago/epd

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Einsatz für die Demokratie: Wolfgang Thierse (80), ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestages, demonstriert im Februar 2024 gegen Rechtsextremismus.

Wolfgang Thierse hat die Wende 1989 als DDR-Bürger miterlebt und mitgestaltet. Im Interview erzählt er, was er aus den Veränderungen damals gelernt hat, wie sie ihm im Umgang mit den gesellschaftlichen Umbrüchen heute helfen und warum die AfD die Zukunft Deutschlands gefährdet.

Sie haben in ihrem Leben viel erlebt. War die Wende die bisher größte Veränderung? 

Gewiss. Vorher habe ich das Leben eines durchschnittlichen Menschen, eines Nobodys und eines Christen geführt, der nicht einverstanden war mit den Verhältnissen, in denen er leben musste. 1989 mit der friedlichen Revolution und Wiedervereinigung bin ich eine öffentliche Person geworden und in die Politik geraten. Ich konnte meinen Mund aufmachen, mir wurde zugehört und ich konnte für andere sprechen, denen niemand zugehört hat. 

Was haben Sie aus diesem Umbruch über den Umgang mit Veränderungen gelernt?

Das ist vor allem die Erfahrung, dass versteinerte Verhältnisse, sich ändern können und dass es in der Geschichte hin und wieder auch Wunder gibt, überraschende Veränderungen, auf die man allerdings nicht nur warten darf. Man muss zu ihrem Gelingen auch etwas beitragen. Diese Grundeinstellung habe ich noch immer. Allerdings habe ich den Eindruck, dass wir inzwischen in noch dramatischeren Umbruchszeiten leben. 

Was genau meinen Sie damit?

Wir erleben gerade die Gleichzeitigkeit verschiedener Krisen, Bedrohungen, verschiedener Veränderungsnotwendigkeiten und Umwälzungen: Kriege, etwa den imperialistischen Angriffskrieg Putins, die Auseinandersetzungen in Nahost und anderswo. Die Globalisierung, die Migrationsbewegungen, die innere Pluralisierung unserer Gesellschaft, die bekanntlich voller Konflikte steckt. Die digitale Transformation, die Künstliche Intelligenz, die die Welt in einer Weise verändert, von der wir heute nicht wissen, welche Folgen das am Ende haben wird. Und vor allem die große ökologische Herausforderung, das notwendige Heraustreten aus dem fossilen Zeitalter. All das gilt es gleichzeitig zu bewältigen und politisch zu gestalten.

Ist das der Grund für den Aufstieg von Populisten?

Das sind gewaltige Veränderungen, die wehtun und Menschen überfordern können. Diese Fülle von Herausforderungen erzeugt Angst, Abwehr, Ärger und zum Teil Wut. Das wiederum macht manche Menschen verführbar für einfache Antworten und für Schuldzuweisungen sowie für Parteipolitiker, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen. 

Haben Sie Verständnis für die Wählerschaft der AfD?

Nur begrenzt. Gerade im Osten der Republik gibt es so etwas wie eine Veränderungserschöpfung. Ich verstehe, dass die Menschen verunsichert sind, und nehme ihre Sorgen ernst. Aber ich verstehe nicht, warum Menschen ihren Ärger und ihre Empörung und Hoffnungen zu einer Partei tragen, die nichts Konstruktives für sie tut. Einer Partei, die die wirtschaftliche und soziale Zukunft unseres Landes gefährdet und nur Falsches verspricht. Es ist eine Illusion, dass wir die Grenzen Deutschlands wieder schließen können, es sei denn, man will den wirtschaftlichen Ruin des Landes. Deutschland lebt von der Offenheit der Welt. Unserer Exportwirtschaft verdanken wir den Reichtum unseres Landes.

Trotzdem entzündet sich am Thema Migration viel Unmut.

Migration bedeutet, dass Fremde zu uns kommen. Das Fremde rückt näher und stellt das Vertraute und Gewohnte infrage. Integration ist eine große Anstrengung. Sie verlangt von den zu uns Gekommenen viel und sie verlangt von den Einheimischen viel. Das geht nicht ohne Belastungen und Konflikte. Zugleich wissen wir, dass es in einer globalisierten Welt weiterhin Zuwanderung geben wird. Auch brauchen wir Zuwanderung, um unsere wirtschaftliche und soziale Zukunft zu sichern. In der Migrationspolitik muss es deshalb um Regelungen und Steuerung gehen und auch um bessere Absprachen mit den Kommunen.

Menschen sitzen mit einer Deutschlandflagge auf der Berliner Mauer
Freude über die Wende: Diese Männer feiern im November 1989 ohne das ausgeschnittene Emblem aus der DDR-Fahne den Fall der Berliner Mauer. Foto: Foto: imago/imagebroker

Neben den genannten Veränderungen gibt es auch die Theorie, dass sich viele Menschen den Populisten zuwenden, weil das Land schlecht regiert wird. Was müssten die politisch Verantwortlichen tun, um die Menschen besser abzuholen?

Es ist mir zu einfach, den Aufstieg der Populisten nur damit zu erklären, dass die Bundesregierung nicht immer gute Arbeit leistet. Vergleichbare Situationen gibt es in nahezu allen demokratischen Ländern. Das ist kein spezifisch deutsches Problem. Aber natürlich wünsche ich mir, dass die gegenwärtige Regierung weniger öffentlich streitet, dass sie ihre Vorschläge und Beschlüsse so überzeugend wie irgend möglich erklärt. Das verlangt aber auch, dass die Menschen bereit sind zuzuhören. Das aber ist heute nicht mehr selbstverständlich. Wir leben in einer zersplitterten Kommunikationssituation. Viele AfD-Wähler halten sich vorwiegend in den Echoräumen des Internets auf, in denen sie zunehmend radikalisieren.

Gegen Rechtsextremismus und die AfD gehen seit Wochen Hunderttausende Menschen auf die Straße. Was bringen die Proteste?

Ich bin froh, dass sich die sogenannte schweigende Mehrheit nun öffentlich zeigt und damit bekundet, dass sie den öffentlichen Raum nicht den Populisten überlässt. Sie bestreitet damit auch die lügenhafte Behauptung der AfD, dass sie für die Mehrheit des Volkes spricht. Dieses wichtige Engagement gilt es nun in den Alltag zu tragen, in die Diskussionen der Menschen untereinander.

Wie aber lassen sich Menschen erreichen, die in Echokammern leben?

Man kann doch direkt miteinander über die Veränderungen und Probleme sprechen, von Kollege zu Kollege, von Gemeindemitglied zu Gemeindemitglied. Die Diskussion darüber und die Verteidigung der Demokratie darf man nicht nur an die da oben delegieren. Das ist die Alltagsaufgabe und die große Herausforderung, vor der unsere Zivilgesellschaft jetzt steht. 

Welche Rollen sollten wir Christen und die Kirchen dabei spielen?

Ich finde es gut, dass die ostdeutschen katholischen Bischöfe jüngst klargestellt haben, dass die Auffassungen der AfD unvereinbar mit christlichen Grundauffassungen sind. Auch ist es wichtig, dass Christen immer wieder dafür eintreten, dass ein gutes und sinnvolles Leben mehr ist als materieller Wohlstand und individuelle Selbstverwirklichung und dass das Leben immer auch mit Blick auf die Mitmenschen zu gestalten ist. Die Gemeinden sollten Gesprächsräume sein für die Diskussion über die anstehenden Veränderungen und die damit verbundenen Vorbehalte und Schmerzen, wie schwierig das auch sein mag. 

Einige AfD-nahe Christen werfen den Bischöfen vor, sie würden mit ihrem Engagement die Kirche spalten. Was sagen Sie zu der Kritik?

Diese Auseinandersetzung kann man leider nicht vermeiden. Für die Botschaft des Evangeliums, der Nächstenliebe und der Menschenfreundlichkeit über alle Unterschiede hinweg müssen Bischöfe und Christen nun einmal einstehen, auch wenn sie dafür kritisiert werden. Ich glaube sogar, dass die Kirchen wieder attraktiver werden, wenn sie entschlossener und selbstbewusster für ihre Überzeugungen eintreten. Der Mitgliederschwund darf uns nicht feige machen. Eine kleine Nebenbemerkung dazu: Die Gewerkschaften wachsen gerade wieder. Weil sie eindeutiger als früher in den Verteilungskonflikten der Gegenwart Stellung beziehen und deswegen wieder attraktiver für die Menschen in einer pluralisierten Welt geworden sind. 

Sie haben es vorhin selbst gesagt: Die Welt steht vor großen Transformationen, Stichwort Klimakrise. Was raten Sie Menschen, deren politisches Erleben von Angst geprägt ist? 

Ich kann da nur mit den Worten Max Webers sprechen, der mal gesagt hat, gute Politik und Demokratie ist das Bohren dicker Bretter – mit großer Geduld und Ausdauer. Zudem wissen wir aus Erfahrung, dass unser Land und dieser Kontinent Probleme bewältigen können. Dies allerdings gelingt immer nur Schritt für Schritt und nicht per Wunderheilung, so wie uns das die Populisten glauben machen wollen. Die Vereinfacher und die Schwarzmaler, beide schaden unserer Zukunft. 

 

Andreas Kaiser