Kiro Lindemann hat knapp einen Anschlag überlebt

Liebe sie, egal was passiert ist!

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Kiro Lindemann
Nachweis

Foto: Matthias Petersen

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Kiro Lindemanns Heimat ist der christliche Glaube. Davon erzählt er auch auf Youtube: youtube.com/@kirolindemann

In Ägypten leben Christen unter ständiger Bedrohung. Kiro Lindemann hat das am eigenen Leib erfahren. Nach einem Anschlag starben seine Mutter, eine Tante und eine Schwester, er selbst war in Lebensgefahr. Heute setzt er sich in Deutschland für seinen Glauben ein.

Am Samstag ist das Haus mal wieder voll bei Familie Lindemann. Zehn Erwachsene und noch mehr Kinder tummeln sich im Wohnzimmer. Kiro Lindemann hat Tische und Stühle zur Seite geräumt, damit genug Platz ist. Erst wird etwas gegessen. Danach werden Loblieder gesungen und das Evangelium des kommenden Sonntags wird besprochen. Gebetsfrühstück nennen sie das Angebot. Einmal im Monat laden Kiro Lindemann und seine Frau Freunde und Bekannte dazu ein. Mancher kommt aus der Nachbarschaft, mancher fährt über eine Stunde mit dem Auto, um dabei zu sein. „Wir kommen gerne hierher, weil wir gut auftanken und unseren Glauben vertiefen können“, sagt ein Familienvater. „Unsere Kinder kommen auch immer gerne mit.“

Kiro Lindemann ist als Kiro Khalil in Alexandria in Ägypten aufgewachsen, einer Millionenstadt am Mittelmeer. Er ist koptischer Christ. In Ägypten werden die Angehörigen seiner Konfession zwar nicht offensiv verfolgt, müssen aber doch immer mit Repressalien durch die muslimische Mehrheit rechnen. In der Schule sind Kiro und ein Mitschüler die einzigen Christen, jeder kann ihre Gesinnung gleich an den Vornamen ablesen. „Der Lehrer hat mich oft ohne Grund geschlagen und gesagt: Du bist ein beschissener Christ. Du darfst Schweinefleisch essen und Alkohol trinken. Aber du darfst nicht zurückschlagen.“ Es ist seine Mutter, die ihn lehrt, immer in Liebe mit allen auszukommen.

Früh muss Kiro Verantwortung übernehmen, weil er ein Mann ist: „Ich musste meine Schwestern in der Öffentlichkeit begleiten, sonst drohte immer die Gefahr, dass sie beschimpft oder angegangen werden“, erzählt er. Weil sie kein Kopftuch tragen, sind sie als Christinnen leicht zu erkennen. Viele Christen haben ein Kreuz am Handgelenk tätowiert. „Immer wieder werden junge Frauen oder Kinder entführt und gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Das Kreuz erinnert sie an ihre wahre Herkunft“, sagt Kiro und zeigt sein eigenes Tattoo am rechten Handgelenk.

Die Kirche sorgt für ihre Mitglieder, bietet Gottesdienste trotz aller Repressalien, Sonntagsschule für die Kinder, schafft ein Fitnessstudio, eine Apotheke oder einen Spielplatz, Ferienhäuser am Meer – eine Gesellschaft in der Gesellschaft. „Das war meine Heimat, aber nicht Ägypten.“

Es kommt der Moment, als diese Heimat schweren Schaden nimmt. Silvesternacht 2010. An der Schwelle zum neuen Jahr haben sich die Kopten in ihrer Kirche versammelt. Singend und betend begehen sie den Jahreswechsel. Der Gottesdienst ist bereits zu Ende, die Gläubigen strömen auf die Straße, da hört Kiro von drinnen eine gewaltige Detonation vor der Tür. Er erinnert sich an hektische Schreie, sieht verletzte Menschen zur Tür hereinkommen, Panik bricht aus. Sicherheitskräfte schließen die Pforten, damit keine Attentäter in die Kirche stürmen können. 

„Meine Frau findet mich da manchmal anstrengend“

Kiro weiß nicht, dass seine Mutter, seine Tante und seine beiden Schwestern vor der Kirche auf ihn gewartet haben. Er sucht sie in der Kirche, er ruft sie vergeblich auf dem Handy an. Vier Stunden später darf er die Kirche verlassen, er sieht die Szenerie, ein zerstörtes Auto, viele Krankenwagen, mit Zeitungen abgedeckte Leichen. Er macht sich auf eine stundenlange Suche, findet zunächst eine der Schwestern in einem Krankenhaus – und wird nach drei Tagen in ein staatliches Bestattungsinstitut gerufen. Seine traurige Pflicht: Er muss die drei vermissten Familienmitglieder identifizieren. „Meine Mutter hatte uns immer gelehrt, die anderen zu lieben, egal was sie uns angetan haben. Diese Einstellung hat mir geholfen, diesen Moment zu überstehen.“

23 Menschen kommen ums Leben, jemand hat eine Autobombe gezündet. Zum ersten Mal ereignet sich ein solcher Anschlag in Ägypten gegen eine christliche Kirche. Kiro beginnt, sich politisch zu engagieren. Öffentlich erklärt er den Islamismus zum Verantwortlichen für die Gewalt, kritisiert jetzt lautstark all das, was er am eigenen Leib bisher erfahren hat. „Dass ein junger christlicher Mann sie so sehr angeht, hat vielen Muslimen natürlich nicht gefallen“, sagt er heute, wenn er aus seinem Leben erzählt.

Todesdrohungen gegen ihn werden ausgesprochen, die er sehr ernst nimmt. „Ich hätte drei Tage Zeit gehabt, um zum Islam zu konvertieren – ansonsten Kopf ab“, sagt er und macht eine entsprechende Geste. Also ergreift er die Flucht, die ihn 2014 nach Deutschland führt. Kontaktfreudig, wie er ist, findet er schnell Arbeit und absolviert erfolgreich einen Sprachkurs. Beides sorgt dafür, dass er bleiben darf; seit 2021 besitzt er die deutsche Staatsbürgerschaft.

Jetzt macht er wieder in der Öffentlichkeit den Mund auf. Wenn er eingeladen wird, erzählt er aus seinem Leben, manchmal beim Glaubenstreffen auf einer großen Bühne, manchmal im persönlichen Gespräch. Seine Frau bewundert ihn dafür. „Neulich war ein Handwerker bei uns, und es dauerte nur ein paar Minuten, da haben sich die beiden Männer über ihren Glauben unterhalten“, sagt sie. Ihr Mann grinst und sagt: „Meine Frau findet mich da manchmal anstrengend. Aber wenn ich ganz offen aus meinem Leben erzähle, kommen wir schnell auf diese Themen und bleiben nicht beim Plaudern über das Wetter stehen.“

Auch auf verschiedenen Kanälen im Internet erzählt er von seinem Glauben. Seine Botschaft ist eindeutig. Er gibt nicht den von Hass getriebenen Christen, der gegen Muslime vorgehen will. Stattdessen äußert er Mitleid mit dem Attentäter, denn der sei von seiner Religion getrieben, Christen, also „Ungläubige“, zu töten und sich dadurch besserzustellen. Deshalb macht Kiro auch nicht Gott dafür verantwortlich, was ihm passiert ist. „Gott hat daran keine Schuld“, sagt er. „Ich finde diesen Gott total attraktiv. Er ist mehr als faszinierend. Er macht keine Fehler und hat mich nie alleine gelassen“, fügt er hinzu. „Vielleicht bin ich durch die Hölle gegangen. Aber dann war ich da nicht allein. Er hat mit mir geweint.“

In seiner neuen Heimat arbeitet Kiro jetzt als Schulbegleiter. Er lädt gerne Nachbarn und Kollegen ein, auch Muslime. Sie kochen zusammen – und reden. Immer geht es darum, was dem Leben einen Sinn gibt. Aus Kiros Sicht ist das eindeutig.

Youtube-Kanal: youtube.com/@kirolindemann

Vortrag im Haus am Dom in Minden am Samstag, 3. Mai 2025, 11 Uhr.

Matthias Petersen

Zur Sache

Der Koptisch-Orthodoxen Kirche gehören bis zu elf Millionen Mitglieder an, die meisten von ihnen leben in Ägypten. Der Kirche steht ein Papst vor, seit 2012 Tawadros II. Nach dem Konzil von Chalcedon 451 trennten sich Ost- und Westkirchen, weil sie uneins waren in dogmatischen Fragen. Sitz des Generalbischofs in Deutschland ist das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Brenkhausen bei Höxter.