Holocaust: Erinnerungskultur

Menschen wie wir

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ZWEITZEUGEN e.V

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 Durch Fotos können die Schülerinnen und Schüler den Zeitzeugen noch näherkommen.

Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocausts sind überall gefragt. Doch die meisten sind sehr alt und viele sind schon gestorben. Ein Verein hat die Idee der Zweitzeugen entwickelt. Können sie die Geschichte der Zeitzeugen weitererzählen? Und wie reagieren Schülerinnen und Schüler darauf? Barbara Dreiling hat sich das Projekt angeschaut.


,, Man kann nicht nicht zuhören ''

„Ihr merkt, das Thema ist nicht leicht, über das wir heute sprechen“, sagt Louisa Hübers. Mit 22 Schulkindern und ihrer Klassenlehrerin sitzt sie im Stuhlkreis. Die Mädchen und Jungen halten bunte Postkarten mit Zitaten von Holocaust-Überlebenden in den Händen. Auf einer steht das Zitat von Chanoch Mandelbaum: „Man kann nicht vergessen. Ich denke noch oft an die Vergangenheit. […] Manchmal zittere ich und fang an zu weinen, innerlich zu weinen. […] Aber allgemein glaube ich, dass ich das doch gut überstanden habe und irgendwie doch gut das Leben wieder von vorne angefangen habe.“

Ein Mädchen sagt, es habe die Karte ausgewählt, weil es dieses Gefühl kenne, etwas gut überstanden zu haben. Andere haben beispielsweise das Zitat von Erna de Vries ausgewählt, die gesagt hat: „Das Schweigen bringt die Menschen einander auch nicht näher. Ich finde, man sollte versuchen, aufeinander zuzugehen.“ Genau das ist ihnen wichtig, erzählen sie in der Runde.

Hübers erklärt, dass die Sätze aus den Lebenserinnerungen von Menschen stammen, die verfolgt worden sind. Und sie fragt: „Wisst ihr, was ‚verfolgt‘ bedeutet?“ Die Arme gehen hoch, manche schnippen mit den Fingern und sagen, was ihnen einfällt. Bedeutet ‚verfolgt‘ nicht, dass man verhaftet wird, dass man ins Gefängnis gesteckt wird oder dass Leute einen beleidigen?

 

Louisa Hübers
 Einen Schultag lang erzählt Louisa Hübers Grundschülerinnen und -schülern vom Leben der Überlebenden des Holocausts. Foto: Barbara Dreiling

Hübers (27) gestaltet in einer vierten Klasse der Gemeinschaftsgrundschule Ricarda Huch in Köln-Stammheim einen Schultag über das Schicksal der Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg – und vor allem über das Schicksal derer, die den Horror der Nazizeit überlebt haben. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind mittlerweile sehr alt. Viele von ihnen können ihre Geschichte nicht mehr selbst erzählen wie vor Jahrzehnten, als sie noch regelmäßig eingeladen worden sind, um an Schulen zu sprechen. Viele Zeitzeugen sind bereits verstorben. Der Verein Zweitzeugen e.V. hat sich zum Ziel gesetzt, ihre Geschichten weiterzuerzählen. Hübers, die als Bildungsreferentin für den Verein arbeitet, ist eine dieser Zweitzeuginnen.

Doch können junge Menschen wie sie die Erinnerungen der Überlebenden in die Gegenwart transportieren? Kann man Zeugin oder Zeuge für etwas sein, das man nicht selbst erlebt hat? Und was kann man Grundschulkindern zumuten? Sollte man ihnen erzählen, welche Gewalt Jüdinnen und Juden in der Nazizeit erlitten haben? 

An diesem Dienstag im Januar gibt Hübers einen ganzen Unterrichtstag. Die Schülerinnen und Schüler sind zwischen neun und zehn Jahre alt. Das Fach Geschichte haben sie noch nicht. Einige wissen, was der Zweite Weltkrieg war und auch, wann er ungefähr passierte. Hübers legt große Blätter mit den Jahreszahlen 1933, 1939 und 1945 auf den Boden im Stuhlkreis.

Dann erarbeitet sie mit den Kindern, mit welchen Gesetzen jüdische Menschen in der Nazizeit ausgeschlossen wurden. Auf dem Boden liegen wieder Karten, auf denen Fahrräder, Haustiere, Telefone, Radios oder Straßenbahnen abgebildet sind. All das durften Jüdinnen und Juden in der Nazizeit nicht mehr besitzen oder benutzen. „Wie wäre das für euch?“, fragt Hübers, wenn Musik hören, mit Freunden telefonieren, eine Katze besitzen, Fahrrad fahren oder Xbox spielen nicht möglich wären? „Dann gehe ich zum Fußball“, ruft ein Junge. „Auch das hättest du nicht gedurft“, antwortet ihm Hübers. Stille legt sich über das Klassenzimmer. 

Früher hatte Hübers die Idee, Geschichtslehrerin zu werden, doch dann hat sie Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Interkulturelle Beziehungen studiert. Seit 2022 arbeitet sie beim Zweitzeugen e.V.. Sie sagt, sie mache dort genau das, was sie schon immer interessiert hat. Anders als Lehrerinnen muss sie jedoch keinen Lehrplan einhalten. Bei ihren Workshops und Schulprojekten könne sie „eine andere Art Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen aufbauen und darüber ganz viel vermitteln“, sagt sie. Die Schülerinnen und Schüler nennen sie Louisa. Bei ihr dürfen sie viel von dem erzählen, was sie gerne tun, gerne frühstücken oder gerne spielen. Das gehört zu ihrem Unterricht, denn es führt zu der Lebenswelt der jüdischen Kinder der 30er und 40er Jahre, die ihre Freizeit auch mit Spielen, Haustieren oder Fußball verbracht haben.

Verbrechen der Nazizeit dürfen „nicht in Vergessenheit geraten“

In der folgenden Woche wird Hübers’ Kollegin einen ähnlichen Schultag in der Parallelklasse durchführen. Seit drei Jahren wird der Zweitzeugen e. V. von der Gemeinschaftsgrundschule für Workshops eingeladen. „So eine Lebensgeschichte ist einfach ein super Format für Grundschülerinnen und Grundschüler“, sagt Monika Wieder. Die Schulsozialarbeiterin und ihre Kolleginnen nutzen den Spielraum, den der Lehrplan im Sachunterricht bietet. Sie findet es wichtig, dass die Verbrechen der Nazizeit „nicht in Vergessenheit geraten“. Menschen sollten nicht sagen, das stimme gar nicht, das sei gar nicht passiert, erklärt sie. Kommt das denn vor? „In der Schule habe ich das noch nicht gehört, aber damit werden die Kinder konfrontiert werden“, sagt Wieder.

Nach der Pause geht der Workshop weiter. Hübers erzählt den Kindern nun die Lebenserinnerungen von Elisheva Lehman. Die Zeitzeugin wurde 1924 in Scheveningen in Holland geboren und ist 2021 gestorben. Ihre Erinnerungen zählen aus Hübers’ Sicht zu den etwas weniger grausamen Geschichten, obwohl auch Lehmans Familie nur knapp dem Tod entkommen ist.

Der Beamer wirft Lehmans Foto an die Wand. Sie ist jetzt groß über der Tafel zu sehen – eine lächelnde, zugewandte Rentnerin, die auch die eigene Oma sein könnte. Hübers möchte, dass sich die Kinder mit ihr identifizieren können. „Ellis mochte das Aufräumen nicht“, erzählt Hübers. Die Kinder sollen verstehen:

„Diese Zeitzeugin ist ein Mensch wie ich.“ 

Zweitzeugin Louisa Hübers
Die Kinder erzählen, was sie gern tun – und erfahren, wie sehr ihre Interessen denen der jüdischen Kinder in der Nazizeit ähneln. Foto Barbara Dreiling

Sich zu konzentrieren, fällt den 22 Schülerinnen und Schülern gerade nicht leicht. Es ist elf Uhr und unruhig im Klassenzimmer. Seit acht Uhr erarbeitet sich die Klasse, was es bedeutet hat, in der Nazizeit verfolgt zu sein. Stoff, den viele von ihnen noch nie gehört haben, in dem es um Geschichte, Politik und Schicksale geht. Während Hübers die Geschichte von Ellis Lehman erzählt, müssen sie viel zuhören und mitdenken. Nicht von jeder Situation in ihrem Leben gibt es Fotos und schon gar keine Videos. Deshalb hat der Verein Unterrichtsmaterialien und Grafiken erstellt. Der Beamer zeigt jetzt Illustrationen von Ellis’ Jugendjahren: Wie sie mit ihrem Freund Bernie tanzend übers Parkett geht, wie sie ihn auf einer Parkbank küsst. Doch was ist das für ein Stern auf der Kleidung von Ellis und ihrem Freund?, fragt Hübers die Klasse. Niemand weiß eine Antwort. Hübers erklärt, wie der Davidstern zum Zeichen der Ausgrenzung geworden ist. 

Trotz der Ungeduld der Schülerinnen und Schüler bleibt etwas hängen. Als Hübers fragt, wie sie sich bei der Geschichte gefühlt haben, antworten sie wie im Chor: „Traurig.“ Warum? „Weil sie sich verstecken mussten, um zu überleben“, sagt eine Schülerin. „Weil Bernie gestorben ist“, sagt ein Schüler. Im Juli 1942 tauchte Lehmans Familie unter. Mit ihren Eltern, ihrem Bruder und ihren Großeltern lebte sie bis Mai 1945 in 13 oder 14 Verstecken. Zuvor musste sich die 17-jährige Ellis von ihrem Freund verabschieden. Sie versprachen einander, nach dem Krieg zu heiraten, doch Bernie wurde in Auschwitz ermordet. Hübers erzählt auch, wie Lehmans Bruder und ihre ganze Familie nur knapp unverletzt blieben, als die Nazis mit einem Messer durch die Holzbohlen stachen, unter denen sie und ihr Bruder sich versteckten.

Als Zweitzeugin hat sie sich die Biografien von vier Zeitzeugen angeeignet, zwei von ihnen ist sie noch persönlich begegnet, mit einer Überlebenden des Holocaust chattet sie noch ab und zu. „Man kann nicht nicht zuhören“, sagt sie, wenn Zeitzeugen selbst von ihrer Lebensgeschichte erzählen. „Man kann eine Stecknadel fallen hören, es ist so ruhig, alle hören wie gebannt zu. Und es berührt einen in jeglicher Hinsicht, weil man sich nicht vorstellen kann, dass das tatsächlich passiert ist“, sagt Hübers. „Wir wissen, was passiert ist. Aber es ist ein Unterschied, ob man das aus Büchern lernt und liest und sich vielleicht noch einen Film anguckt – oder ob einem die Person gegenübersitzt und erzählt, was sie erlebt hat.“

Am Ende des Workshops haben die Viertklässler Briefe an die Tochter von Elisheva Lehman geschrieben. Einige haben Bilder gemalt oder in Sätzen formuliert, was sie an Lehmans Lebensgeschichte berührt hat. In einem Video, das der Verein vor Lehmans Tod mit ihr aufgenommen hat, bedankt sich die Überlebende bei den Kindern für die vielen Briefe aus Deutschland. „Ich war sehr gerührt von euren Briefen“, sagt sie. 

Ihr neuer Zweitzeugenausweis mit dem Foto von Elisheva Lehman wird die Kinder an den Workshop erinnern. Und vielleicht noch mehr. Sie wissen jetzt, was jüdischen Kindern in der Nazizeit passiert ist, und haben überlegt, was man heute gegen Ausgrenzung tun kann. Ein Schüler sagt, er hätte nicht gedacht, „dass so viele Menschen gestorben sind“. Ein anderer sagt, er sei froh, gehört zu haben, „dass Menschen überlebt haben“.
 

,, Eine neue Erinnerungskultur ''

Katharina Müller-Spirawski ist Mitgründerin des Zweitzeugen e.V. Lange dachte sie, dass Judenhass in Deutschland nicht mehr zunimmt. Im Interview erzählt sie, wie sie antisemitische und rassistische Tendenzen in Schulen beobachtet.

Menschen sollen zu Zweitzeuginnen und Zweitzeugen für Überlebende des Holocaust werden. Warum finden Sie das wichtig?

Weil ich so viele Zeitzeugen getroffen habe und gespürt habe, wie wichtig das ihnen war. Manche von ihnen sind morgens schwerkrank in die Schule gekommen, um ihre Geschichte zu erzählen. In so ziemlich jedem Interview, das ich mit Zeitzeugen geführt habe, habe ich deren Wunsch gespürt, dass die Geschichte weitererzählt wird. 

Können Zweitzeugen die Treffen mit Zeitzeugen ersetzen?

Nein. Wenn man heute noch mit einem Zeitzeugen sprechen kann, sollte man das auf jeden Fall tun. Aber wir können versuchen, eine neue Erinnerungskultur aufzubauen für die Zeit, in der es keine Zeitzeugen mehr gibt. 

Wie nehmen Sie den Wissensstand an den Schulen zum Thema Holocaust wahr? 

Katharina Müller-Spirawski
Katharina Müller-Spirawski. Foto: privat

Unsere Workshops finden zum großen Teil in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen statt. Wie viel Vorwissen vorhanden ist, hängt davon ab, ob es in einer Stadt eine gute Gedenkarbeit gibt, ob zum Beispiel Stolpersteine präsent sind. Je älter die Kinder sind, desto mehr haben sie in der Schule schon gehört. Ich würde schon sagen, dass ein großes Interesse besteht. 

Der Zweitzeugen e.V. erzählt die Geschichte von Überlebenden des Holocaust. Doch inwieweit nehmen Sie heutzutage an den Schulen Antisemitismus wahr?

In der Anfangszeit nach dem Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober ist es mehr geworden. Es war entfesselter. Bei manchen Jugendlichen merkte man eine große Desinformation. Sie sehen in den sozialen Medien Sachen, die sie gar nicht einordnen können, zum Teil auch Falschinformationen.

Wie gehen Sie in den Workshopsdamit um?

Was wir machen können, ist, die Abfolge der Ereignisse noch mal zu klären und zu fragen: Wisst ihr, dass es einen Terroranschlag der Hamas in Israel gab? Das haben einige Jugendliche oft nur halb gehört, verdrängt oder wollen es nicht wissen. 

Nehmen Sie auch unterschiedliche antisemitische Richtungen wahr, also rechtsradikalen Antisemitismus oder linksradikalen oder muslimischen? 

Muslimische Jugendliche sind teilweise von Medien aus dem Nahen Osten beeinflusst. Die hören die andere Seite schon gar nicht zu Hause und haben sich oft auch nicht mit den Fakten über Israel auseinandergesetzt. Rechtsradikaler Antisemitismus ist sicherlich vorhanden, für uns aber kaum wahrnehmbar, denn diese Schüler äußern sich nicht. Sie wissen sehr genau, wie man angepasst in der Schulklasse wirkt und dann aber die AfD und rechte Gruppen unterstützt. Was wir wahrnehmen, ist, dass Schülerinnen und Schüler, die noch keine extreme politische Richtung kennen, sich häufiger trauen, Sachen nachzuplappern wie, man dürfe nichts mehr gegen Israel sagen. 

Wie versuchen Sie darauf zu reagieren? 

Zum einen, indem wir Antisemitismus nicht zulassen. Der Workshop muss auch ein Schutzraum bleiben, denn wir wissen nicht, ob es jüdische Schülerinnen und Schüler in der Klasse gibt. Zum anderen: Wenn wir merken, da sind jetzt wirklich ganz viel Falschinformationen vorhanden, dann versuchen wir, so kurz, wie es irgendwie geht, den Israel-Palästina-Konflikt geschichtlich noch mal zu erzählen und zu sagen: „So ist das heute. Ihr hört, da sind zwei Seiten beteiligt.“ Was wir aber auch vor dem 7. Oktober wahrgenommen haben, ist eine ganz große Anteilnahme.

Inwiefern?

Vor allem die Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte kennen häufig Dinge, die wir so gar nicht nachfühlen können. Einmal kam ein Mädchen und hat sich bedankt, dass ich die Geschichte eines Überlebenden auf einem Todesmarsch erzählt habe. Sie hatte bei ihrer Flucht aus Syrien auch tote Menschen an der Straße gesehen und erzählt, wie sie alle nicht mehr laufen konnten. Ich glaube, dass da gerade bei Kindern mit eigener Migrationsgeschichte eine andere Art von Mitfühlen da ist.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie wahrnehmen, wie Rassismus und Antisemitismus heute in Deutschland zunehmen?

Ich habe lange gedacht, dass das nicht noch einmal passieren kann. Doch jüdische Freundinnen erzählten mir immer wieder, dass sie beispielsweise ihre jüdischen Gegenstände wegräumen, wenn fremde Menschen bei ihnen zu Besuch sind. Sie wollen nicht, dass jemand weiß, dass die Frau in dieser Wohnung jüdisch ist. Persönlich macht mir das große Angst. Als Verein wollen wir dazu beitragen, dass es weniger Antisemitismus und Rassismus in der Gesellschaft gibt.

Barbara Dreiling