Das Grab eines Missbrauchstäters am Altar

Unterm Teppich

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St. Stephan Gonsenheim Hier liegt ein Missbrauchstäter begraben.
Nachweis

Foto: Ruth Lehnen

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Hier "erwartet die Auferstehung": ein Missbrauchstäter hat sich in Mainz am Altar beerdigen lassen.

Seit 40 Jahren liegt Pfarrer H. in unmittelbarer Nähe des Altars der Kirche St. Stephan Mainz-Gonsenheim begraben. Was einige vor Ort wussten, ist seit der Veröffentlichung der Missbrauchs-Studie im Bistum Mainz allgemein bekannt – im Ehrengrab liegt ein Missbrauchstäter. Für die Ewigkeit? Eine Recherche von Ruth Lehnen

 

In der großen Kirche ist es hell und kalt. Kein Mensch zu sehen um diese Mittagsstunde am  
11. März. Hier, in St. Stephan in Mainz-Gonsenheim, steht eine Kerze auf dem Altar. In schwarzer Schrift steht darauf: „Gegen Gewalt, gegen Wegsehen, gegen Vergessen“. Trotzdem fühlt es sich seltsam und verboten an, vorn im Altarraum unter die Auslegeware zu gucken. Denn hier ist was unterm Teppich. Das kann seit der EVV-Studie über Missbrauchstaten im Bistum Mainz jeder wissen. Zwischen Altar und Apsis liegt im Boden das Grab eines Missbrauchstäters, der an dieser Stelle „auf die Auferstehung wartet“, wie in Latein auf seiner Grabplatte geschrieben ist. 

Wer über den Mann, der hier liegt, mehr wissen will, kann den Text eines Zeitzeugen lesen, der unter dem Titel „Lieblingsmessdiener“ auf der Homepage von Rechtsanwalt Ulrich Weber steht, der am 3. März dieses Jahres die Studie zum Missbrauch im Bistum Mainz seit 1945 vorgelegt hat. (siehe unten "Zur Sache")

Der Täter Pfarrer H. ist in Mainz-Gonsenheim sehr bekannt, immer noch, 40 Jahre nach seinem Tod. Denn der Bruder eines langjährigen Generalvikars hielt sich für etwas ganz Besonderes.

"So ein Despot." sagt Pfarrer Markus Konrad über Pfarrer H.

„So ein Despot“, sagt Pfarrer Markus Konrad. Konrad ist 1998 als Kaplan in Gonsenheim gewesen und dann wieder bis vor kurzem hier Pfarrvikar. Er kennt die Berichte über Hochwürden, die bei der Krankenkommunion, bei Gesprächen mit Angehörigen vor einer Beerdigung zur Sprache kommen: Pfarrer H. war ein Mann, der in der Sakristei „Backpfeifen“ verteilte, wenn ihm etwas nicht passte, und seine Messdiener mit riesigen Stücken Erdbeerkuchen versorgte, wenn sein Namenstag gefeiert wurde. Markus Konrad sagt, „mit dem Grab da im Nacken“ gehe ihm am Altar von St. Stephan jedes Wort schwer über die Lippen. Und er erinnert daran, dass Pfarrer H. sich die Kirche so gestaltet hat, dass sie zu einem Erinnerungsort an ihn wurde. 

St. Stephan Mainz-Gonsenheim
St. Stephan in Mainz-Gonsenheim, der "Rheinhessendom"
Foto: Ruth Lehnen

 

Von 1963 bis 1969 hat Pfarrer H. die Gonsenheimer Kirche renovieren und vollkommen verändern lassen. Dabei ging es keineswegs um eine Anpassung an die Vorgaben des Zweiten Vatikanums, sondern um den Größenwahn des Pfarrers. Er ließ den Chor so umgestalten, dass er im Kreis der Messdiener auf einer Art Bischofsthron sitzen konnte. Er ließ sein Wappen in gleicher Höhe und Größe wie das Bischofswappen von Hermann Volk anbringen, über einer Seitentür, wo die beiden Wappen heute noch hängen. Lange vor seinem Tod schuf er sich sein Grab in der Nähe des Altars. Erst 1983 starb er und liegt jetzt an dieser besonderen Stelle, der im Mittelalter nur Königen und Heiligen als Grabstätte zukam. So ist er, wie Mittelalter-Archäologe Guido Faccani erläutert, „immer dabei“ – Teil jeder Messe, in der es ja immer auch ums Totengedenken geht. Pfarrer H. hat seinen Machtanspruch in Stein meißeln lassen und drängt sich der Gemeinde noch 40 Jahre nach seinem Tode auf. „Eine Anmaßung“, sagt Faccani.

Pfarrer H. glaubte laut Norbert Wolf, er könne Bischof
werden. Sein Wappen (links) ließ er auf gleicher Höhe
wie das von Bischof Hermann Volk aufhängen. Es hängt immer
noch in der Kirche. Foto: Ruth Lehnen

 

Der Gonsenheimer Norbert Wolf, 1944 geboren, hat Pfarrer H. noch selbst gekannt. Und sogar gemocht, am Anfang. Den Mann, der in den 1950-er Jahren mit seinen minderjährigen Messdienern Zigarren rauchte und Wein trank. Der ihnen das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. In dessen Glanz sie an Feiertagen in die Kirche einzogen und dem hohen Herrn die Spitzen des Chormantels hielten wie einem König. Die Erlebnisse mit Pfarrer H. hat Wolf sogar in einem Buch notiert, das er für sich selbst und seine Familie geschrieben hat. Später emanzipierte sich Norbert Wolf von dem übermächtigen Pfarrer, stritt mit ihm und gegen ihn. 

Denn der „Stadtpfarrer“ von Gonsenheim behielt Latein als Sprache der Liturgie bei und „las“ die Messe weiterhin „mit dem Rücken zum Volk“. Die Handkommunion hielt er für Teufelswerk und verweigerte sie. Darüber beschwerte sich Norbert Wolf schriftlich und mündlich bei Bischof Volk. Ein persönliches Gespräch mit dem Bischof hat seiner Einschätzung nach dazu beigetragen, dass Pfarrer H. die Gemeinde 1971 verließ. 

„Schon bald wurde deutlich, dass die Messdiener, ,seine Buben‘, seine große Liebe waren": aus der Beerdigungsrede für Pfarrer H.

Als Pfarrer H. 1983 starb, war Norbert Wolf Pfarrgemeinderatsvorsitzender. Der amtierende Pfarrer, Pfarrgemeinderat und Verwaltungsrat hätten sich damals für die Bestattung von Pfarrer H. in der Kirche ausgesprochen, nur er allein habe dagegen gestimmt. Als Pfarrgemeinderatsvorsitzender hat er bei der Beerdigungsfeier von Pfarrer H. gesprochen. Er sagte unter anderem: „Schon bald wurde deutlich, dass die Messdiener, ,seine Buben‘, seine große Liebe waren; für sie hat er sich auf seine Weise engagiert und viele für sich begeistern können ... Sein Bemühen um die Messdiener war auch von seinem Wunsch geprägt, einige von ihnen zum Priestertum zu führen, zwölf sollten es werden.“ 

Norbert Wolf wusste von Gerüchten über Missbrauch. Aber erst 1990 erfuhr er definitiv, dass Pfarrer H. nicht nur erzkonservativ und autoritär gewesen war, sondern ein Verbrecher. Einer der ehemaligen Messdiener berichtete ihm von dem Missbrauch. Wolf, sonst streitbar und nicht bang, hat dazu jahrelang geschwiegen. Er habe ja nichts beweisen können. Und er sei zum Schweigen verpflichtet worden. Wenn heute die Frage gestellt wird, warum Menschen aus den Gemeinden ihr Wissen über Missbrauchstaten für sich behalten haben, ist dies ein Teil der Antwort. Allerdings hat Wolf zwei Nachfolgern von Pfarrer H. Andeutungen über sein Wissen gemacht. Der eine davon war Hans-Peter Weindorf.

„Erschüttert, entsetzt, zornig und wütend“: Pfarrer Hans-Peter Weindorf 

Pfarrer Weindorf ist gastfreundlich und lädt Leute, die mit ihm reden wollen, gern zum Mittagessen ins Pfarrhaus ein. Mit seinen Gefühlen hält er nicht hinterm Berg: Er sei „erschüttert, entsetzt, zornig und wütend“. Was Pfarrer H. gemacht habe, sei „ein Verbrechen, nicht wieder gutzumachen“. Dann liest er eine Bibelstelle vor: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde“. (Matthäus 18,6)

Unterm Teppich
Pfarrer Hans-Peter Weindorf ließ das Grab mit einem Teppich zudecken. Foto: Ruth Lehnen

 

Das Grab in der Kirche hat Weindorf, der Pfarrer in Gonsenheim von 2006 bis 2021 war, aufgrund der Andeutungen, von denen er gehört hatte, zunehmend mehr aufgeregt. Im Jahr 2020 erhielt er auf Nachfrage endlich Bestätigung vom Bistum. Ja, es gab Missbrauch. Ja, es gab Zahlungen an einen Betroffenen zur „Anerkennung des Leids“. Weindorf startete seine Silvesteraktion fürs neue Jahr 2021: Er ließ das Grab mit Teppich abdecken. „Es ging nicht darum, etwas unter den Teppich zu kehren, es ging darum, ihm diese Ehre zu nehmen“, sagt er heute. Wenn niemand das Grab mehr sieht, so seine Überzeugung, wird der Täter vergessen werden, wie er es verdient hat. Weindorf war der erste Pfarrer, der offen über den Missbrauch gesprochen hat. 

Weindorfs Nachfolger Thorsten Geiß ist erst seit eineinhalb Jahren Pfarrer in Gonsenheim, und leitender Pfarrer der Pastoralraums Mainz-Nordwest mit mehr als 19 000 Katholiken. Er hat das Problem mit dem Grab, mit dem Teppich und mit der Frage, was nun geschehen soll, quasi geerbt. Auf ihn und den jetzigen Pfarrgemeinderatsvorsitzenden Karl-Otto Hofmann, der Pfarrer H. auch noch gekannt hat, kommt jetzt die Frage nach einer angemessenen Erinnerungskultur zu, die auch die Bistumsleitung im Zusammenhang mit den durch die EVV-Studie öffentlich gewordenen Missbrauchsfällen entwickeln will. 

"Es ist großes, unverzeihliches Unrecht geschehen.“ Pfarrgemeinderat und Verwaltungsrat

Bis zum 27. April brauchen Pfarrer, Pfarrgemeinderat und Verwaltungsrat, um eine „gemeindliche Reaktion“ auf die EVV-Studie in Form einer schriftlichen Stellungnahme zu verfassen. Darin bitten sie um Verständnis, dass „Laiengremien“ wie auch „Hauptamtliche“ Zeit brauchen, um „die Inhalte gründlich zu bearbeiten, fundiert Stellung zu nehmen und entsprechende Konsequenzen vorzubereiten“. Kern der Erklärung ist: „Aufgrund der EVV-Studie müssen wir davon ausgehen, dass ein Pfarrer unserer Gemeinde, der schon vor rund 40 Jahren gestorben ist, schuldig geworden ist. Dieser Pfarrer hat seine Stellung und Position missbraucht und Mitgliedern seiner Gemeinde sexualisierte Gewalt angetan ... Es ist großes, unverzeihliches Unrecht geschehen.“

Im Juli wird die Bevollmächtigte des Generalvikars, Stephanie Rieth, im Bistum Mainz zuständig für die Themen Missbrauch und Prävention, bei einem PGR-Wochenende dabei sein. Da wird auch der Umgang mit dem Grab eine Rolle spielen. Geiß und Hofmann haben sich dazu Gedanken gemacht. Man könnte zum Beispiel die Grabplatte abschleifen. Oder sie herausnehmen und anderswo platzieren. Und mit einem Schild über die Missbrauchstaten in der Gemeinde informieren. 

Von einer Exhumierung des Pfarrers H. hält Hofmann nicht viel: Was geschehen ist, sei „ein Stachel in unserem Fleisch, das müssen wir aushalten“. Geiß sagt: „Allein der Aufwand, der da betrieben würde, verschafft dem Pfarrer wieder Aufmerksamkeit. Und dann: Wohin mit seinen sterblichen Überresten? Die müssten ja wieder bestattet werden?“ 

Kereze "Gegen Wegsehen"
Gegen Gewalt, gegen Wegsehen, gegen Schweigen. Eine Kerze im Kirchenraum. Foto: Ruth Lehnen

 

Vielleicht könnte der Vorschlag des Archäologen Guido Faccani für die Gemeinde interessant sein. Faccani hält nichts von einer „damnatio memoriae“, einer Auslöschung der Erinnerung, wie sie schon in der Antike betrieben wurde. Er kann sich vorstellen, die beschriftete Grabplatte umzudrehen. So werde der Text erhalten, aber die Hoffnung von Pfarrer H. durchkreuzt, „an dieser Stelle, die ihm nicht zukommt“, auf sich aufmerksam zu machen. 

"Leider fehlt fast überall die Sprachfähigkeit“. Regionalkantorin Mechthild Bitsch-Molitor

Regionalkantorin Mechthild Bitsch-Molitor hält genau dort, wo der Pfarrer sich hat bestatten lassen, ihre Chorproben mit dem Kirchenchor St. Stephan ab. Nach der Vorstellung der EVV-Studie sei in den Chorpausen viel darüber gesprochen worden, es gab einige Aufregung, denn unter den Sängern sind ehemalige Messdiener. Die Chorleiterin hätte sich gewünscht, dass die Gemeinde gleich nach Veröffentlichung der Studie Gelegenheiten zum Gespräch angeboten hätte: „Das Wichtigste ist, dass man kommuniziert.“ Leider fehle „fast überall die Sprachfähigkeit“. 

Die Frage, was mit dem Grab passieren soll, sieht sie „komplett distanziert“. Für sie ist eine „Kultur der Wachsamkeit“ wichtig. Sie fragt sich, ob die Gemeinde darauf gefasst ist, dass sich noch weitere Betroffene melden. „Man muss sich um das Leben kümmern. Und niemals mehr Leute in der Kirche beerdigen. Das muss man alles abschaffen.“

Zur Sache: "Lieblingsmessdiener"

Unter dem Titel „Lieblingsmessdiener“ hat ein Betroffener die Gewalt geschildert, die Pfarrer H. ihm als Messdiener angetan hat. Dieses erschütternde Dokument eines psychischen und physischen Missbrauchs ist online auf der Homepage von Rechtsanwalt Ulrich Weber, der die EVV-Studie zusammen mit Johannes Baumeister erarbeitet und am 3. März 2023 vorgestellt hat. Darin ist nachzulesen, wie Missbrauch das ganze Leben beeinflusst. Der Mann, der hier seine Erlebnisse schildert, versuchte in  vier Anläufen, bei Vertretern der Kirche Gehör zu finden: zweimal in den 1980-er Jahren, 1990 und schließlich 2010. Der Text „Lieblingsmessdiener“ ist öffentlich auf der Seite von Rechtsanwalt Ulrich Weber: 
https://uw-recht.org/

Zur Sache: Die Botschaft an die Nachwelt

Auf der Grabplatte hat Pfarrer H. auf Latein seine Nachricht für die Nachwelt hinterlassen. 
Sie lautet in Übersetzung: 
„Dem Herrn ein vollkommenes Volk zu bereiten“  – ein Bibelzitat aus der Ankündigung des Engels vor der Geburt des Johannes. Johannes der Täufer, das zu erwartende Kind, werde „viele bekehren ... um dem Herrn ein vollkommenes Volk zu bereiten.“

„Hier erwartet die Auferstehung, mehr auf Barmherzigkeit als auf richterliches Urteil vertrauend“ – hier folgt der Name und die Erklärung: 
„der Restaurator dieser Kirche“ 
Ferner: 
„Ich habe die Wahrheit eifrig betrieben und die Gerechtigkeit geliebt; deswegen bin ich einsam gestorben.“

Den letzten Satz versteht der Zeitzeuge Norbert Wolf als eine Art Anschuldigung des Pfarrers aus dem Grab heraus, der sich von seinen ehemals Getreuen verlassen gefühlt habe. Er habe vor seinem Tod häufiger in Anspielung auf eine Bibelstelle (Matthäus 23, 35) gesagt: „Zwischen Tempel und Altar habt ihr mich ermordet“ – dann habe er sich zwischen dem früheren Ort des Tabernakels (Tempel) und dem Altar bestatten lassen.

Als Pfarrer H. 1983 beerdigt wurde, war schon das neue kirchliche Gesetzbuch Codex Iuris Canonici durch Papst Johannes Paul II. verkündet, allerdings noch nicht endgültig in Kraft gesetzt. Darin heißt es: Can. 1242 — „In Kirchen dürfen Leichname nicht begraben werden, sofern es sich nicht um die Beerdigung des Papstes, der Kardinäle oder der Diözesanbischöfe, auch emeritierter, in ihrer eigenen Kirche handelt.“ (nen)

Ruth Lehnen