Impuls zur Sonntagslesung am 17. September 2023

Wie geht Verzeihen?

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Die Hand zur Vergebung reichen
Nachweis

Foto: kna/Will Crooks

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Vergebung geht nicht schnell, aber sie ist auch nicht unmöglich – und letztlich heilsam für einen selbst.

Der Prediger Jesus Sirach und Jesus erinnern in den Lesungstexten daran, wie wichtig es ist, einander zu vergeben. Die Ordensfrau Melanie Wolfers weiß, wie schwierig das ist. Es erfordert Kraft, Mut – und manchmal viele Anläufe.

Frau Wolfers, gibt es einen Unterschied zwischen vergeben und verzeihen?

Ich differenziere nicht zwischen vergeben und verzeihen. Ich differenziere aber zwischen vergeben/verzeihen und sich versöhnen. Das Erste ist ein innerseelischer Vorgang, das Zweite ein zwischenmenschliches Geschehen.

Hat Vergebung immer etwas mit Gott zu tun?

Wo Menschen versöhnt miteinander leben, ereignet sich immer etwas von Gottes neuer Welt, von der Jesus erzählt. Aus christlicher Perspektive hat Gott hier also seine Finger mit im Spiel, denn sein Geist wirkt in jedem Menschen. Doch die Fähigkeit zu vergeben ist nicht an den Glauben oder ausdrücklichen Gottesbezug gebunden. Ansonsten könnten Nichtglaubende ja nicht vergeben.

Und wenn wir nur glauben: Vergibt Gott dann immer? Unendliche Male, so wie es im heutigen Evangelium angedeutet ist?

Darin liegt die Mitte unseres biblischen Glaubens, dass Gott sich ohne Wenn und Aber zu uns bekennt und uns seine Liebe schenken möchte. Die Frage ist, ob wir uns je neu dieser Liebe öffnen und die Vergebung in unserem Herzen ankommen kann. 

Wechseln wir doch einmal die Perspektive vom Schuldiggewordenen, der Vergebung sucht, zum Verzeihenden, der anderen die Schuld vergibt … 

Das ist tatsächlich mindestens genauso wichtig. In der Beichtkatechese erfahren viele nur, wie wir Vergebung erbitten können, aber selten den Aspekt, wie das geht, selbst zu vergeben. Die kirchliche Perspektive hat also mehr den Menschen als Sünder im Blick und weniger als Opfer. Doch wir sind immer auch Verwundete, werden in Unheilszusammenhänge hineingeboren und andere werden auch an uns schuldig. Und da stellt sich die große Frage: Wie kann ich mit den Verletzungen und Kränkungen umgehen, dass sie mich nicht krank machen, sondern dass die Wunden heilen? Der Weg des Vergebens lässt Wunden heilen.

Melanie Wolfers
Melanie Wolfers ist Autorin und lebt als Salvatorianerin in Wien. Foto: Ulrik Hölzel

Da ist das heutige Evangelium eindeutig. Ich soll unendlich oft vergeben, egal, ob ich verwundet bin. Woran scheitert das in der Realität?

Bei diesem Evangelium fällt mir der Theologe und Autor Gilbert Keith Chesterton ein, der diese Stelle anders deutet als gewohnt. Nämlich nicht, dass wir 77 – und das meint unendliche viele – unterschiedliche Verfehlungen vergeben müssen. Das wäre wohl eine grenzenlose Überforderung. Sondern, dass wir manchmal 77 Anläufe brauchen dürfen, um ein und dieselbe Verfehlung wirklich vergeben zu können und inneren Frieden zu finden.

Manchmal will man ja auch gar nicht vergeben …

In der Tat, denn Unversöhnlichkeit hat ja auch Vorteile. Da gibt es etwa den Willen, recht behalten zu wollen. Es scheint im menschlichen Herzen eine hartnäckige Haltung zu geben, recht behalten zu wollen und sich nicht einzugestehen, dass ich am Eklat Mitverantwortung trage. Oder man kann die Verletzung als Waffe einsetzen, um dem Menschen, der mich verletzt hat, etwas heimzuzahlen. Damit kann ich diese Person manipulieren und Druck auf sie ausüben.

Und wie kann Vergebung gelingen, auch wenn sie mir schwerfällt? 

Der erste Schritt besteht darin, die eigenen verletzten Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, anstatt sie einfach zu verdrängen oder blind auszuleben. Der Weg des Verzeihens beginnt also damit, im Schlamassel unserer Gefühle anzukommen. Der zweite Schritt: zu versuchen, eine realistischere Sicht auf den Kränkungskonflikt zu bekommen. Also zu schauen, was ich selbst zum Konflikt beigetragen habe. Und zu versuchen, die Sicht der anderen Person ein Stück weit zu verstehen. Manchmal kommen böse Worte ja auch davon, dass der oder die andere nervlich total belastet ist und dann etwas herausrutscht …

… wir alle kennen Situationen, in denen unsere Nerven blank liegen. Dann ist man nicht mehr wohlbedacht und fair.

Wenn wir das verstehen, ist die Verletzung vielleicht gar nicht mehr so schlimm. Und ein weiterer wichtiger Schritt ist, dass man sich irgendwann entscheidet: Will ich der anderen Person ihr verletzendes Verhalten weiterhin nachtragen oder will ich ihr verzeihen? Will ich mit ihr und mit dem Erlittenen innerlich Frieden schließen, anstatt dauernd dagegen anzurennen? Vergeben bedeutet: Ich höre auf, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen. Das ist für mich ein Schlüsselsatz des Vergebens.

Nachtragend zu sein, ist auch in der heutigen Lesung aus dem Buch Jesus Sirach ein Thema. Dort tauchen Groll und Zorn als Sünde auf. Wie werde ich sie los?

Gefühle wie Wut, Zorn, Eifersucht oder der Rachewunsch melden sich spontan zu Wort und verlaufen daher auf der vormoralischen Ebene. Meine Verantwortung und damit die Kategorie von Schuld und Sünde kommen bei der Frage ins Spiel: Wie gehe ich mit meinen Gefühlen um? Ein Beispiel: Es besteht ein großer Unterschied, ob ich eine Mordswut im Bauch habe oder ob ich jemandem vor Wut ein Messer in den Bauch ramme. Groll hingegen ist keine spontane Gefühlsregung, sondern eine Verhärtung im zornigen Gekränktsein.

Sie leben als Norddeutsche in Österreich: Welche typisch deutschen Eigenheiten kann man Ihnen dort nicht verzeihen?

Da müssen Sie meine Mitschwestern fragen (lacht lauthals). Meine Macken und Meisen nehme ich ja nicht immer als solche wahr. Und Österreicher und Österreicherinnen gelten ja als sehr höflich …
 

Michael Maldacker