Eine Einschätzung von Professor Alexander Merkl
Wir Christen und die Waffen
Sind deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine aus christlich-moralischer Sicht vertretbar – oder nicht? Eine Einordung von Alexander Merkl, Professor für Ethik am Institut für Katholische Theologie an der Universität Hildesheim.
Der völkerrechtswidrige und als militärische Spezialoperation zur Denazifizierung und Entmilitarisierung semantisch verhüllte Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die europäische Friedensordnung zertrümmert. Offen zu Tage getreten sind die Grenzen internationaler Rechtsdurchsetzung, der Machtkonflikt zwischen einer autoritären und einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung sowie der Versuch, die Stärke des Rechts durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen.
Dieser Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist absolut zu verurteilen. Er steht im Widerspruch zur Charta der Vereinten Nationen und begründet daher das Recht des angegriffenen Staates auf Selbstverteidigung. Hieraus entspringt zwar weniger die Pflicht, aber doch ein Recht und die Verantwortung anderer Staaten, auch Deutschlands, die Ukraine zu unterstützen. Aber kann diese Unterstützung in Gestalt von Waffenlieferungen erfolgen?
Diese Frage wird kontrovers diskutiert, so in Gestalt von zwei offenen Briefen deutscher Kulturschaffender und Intellektueller an Bundeskanzler Olaf Scholz am 29. April 2022 in der Zeitschrift Emma und als Replik am 4. Mai 2022 in der Zeit. Im kirchlichen Kontext begegnet ein ähnlich heterogenes Meinungsbild. Die Deutschen Bischöfe halten „Rüstungslieferungen an die Ukraine, die dazu dienen, dass das angegriffene Land sein völkerrechtlich verbrieftes und auch von der kirchlichen Friedensethik bejahtes Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen kann“ für „grundsätzlich legitim“. Ablehnend hingegen äußerte sich der Friedensbeauftragte der EKD, Friedrich Kramer: „Müssen wir nicht um der Gerechtigkeit und Nächstenliebe willen helfen? Das ist klar. Aber auch mit Waffen? Ich sage Nein.“
In ähnlicher Stoßrichtung beschrieb die Internationale Katholische Friedensbewegung Pax Christi die Ablehnung von Waffenlieferungen aus Deutschland an die Ukraine als einen „unerlässliche[n] Beitrag zur Deeskalation“. Auch Papst Franziskus bezog Position. Im Rahmen einer Pressekonferenz auf dem Rückflug von seiner Kasachstan-Reise im September 2022 sprach er sich weder grundsätzlich für noch gegen Waffenlieferungen, sondern für eine differenzierte Betrachtung aus. Um die Moralität einer Handlung, eben auch von Waffenlieferungen, zu bestimmen, ist für Franziskus vor allem die mit der Handlung verfolgte Absicht entscheidend, so z. B., ob die Waffen zur Selbstverteidigung eingesetzt werden.
Für die Bundesrepublik Deutschland lässt sich nun feststellen, dass die anfängliche Weigerung nach dem Zweiten Weltkrieg, Waffen insbesondere in Krisengebiete zu exportieren, mittlerweile dem Paradigma einer restriktiven Genehmigungspolitik gewichen ist. So wird eine Ausfuhrgenehmigung von Rüstungsgütern mit einer besonderen Sorgfaltspflicht verbunden und nur nach eingehender Einzelfallprüfung auf Grundlage der politischen Grundsätze der Bundesregierung erteilt. Begründungspflichtig aber ist, warum ein Export nicht durchgeführt werden darf. Anders verhält sich dies im Blick auf die friedensethische Urteilsbildung.
Für eine christliche Friedensethik nämlich handelt es sich bei Waffenlieferungen um die Ausfuhr von schadenverursachenden und potenziell tödlichen Gewaltmitteln. Sie sind daher zwar generell weder gut noch schlecht, aber sie sind doch grundsätzlich moralisch zu untersagen. Begründungspflicht ist somit, warum ein Export durchgeführt werden darf. Hier kann dann gesagt werden, dass Waffenlieferungen nur im Notfall als Nothilfe und zur Notwehr angesichts einer extremen Gefahrenlage zwar als ein bleibendes Übel, aber doch im Sinne einer verhältnismäßigen Ausnahme als moralisch vertretbar erachtet werden können im Wissen um die bleibenden Unsicherheiten. Die Beweislast liegt letztlich bei den Befürwortern entsprechender Maßnahmen.
Aus der Lieferung von Waffen resultiert somit eine besondere moralische Mitverantwortung. Unverzichtbar sind daher die möglichst präzise Darstellung der Handlungskontexte, die involvierten Handlungsparteien, die Art der gelieferten Waffen, Ziele und Absichten, Abwägung von Folgewirkungen und deren Verhältnismäßigkeit, die Suche nach Alternativen, das Bemühen um Transparenz sowie eine rückblickende und regelmäßige Revision und Evaluation der Wirkungen von Waffenlieferungen.
Eine differenzierte friedensethische Urteilsbildung entlang dieser Kriterien mag im konkreten Fall die Entscheidung, Waffen zu liefern, nachvollziehbar und begründbar machen: Denn ein international anerkannter und etablierter Staat wie Deutschland liefert als verhältnismäßige, das heißt als geeignete, angemessene und erforderliche Unterstützung international abgestimmt und auf ausdrückliche Bitte des Empfängerlandes hin bestimmte Kriegswaffen an einen international anerkannten Staat wie die Ukraine, der sich gegenwärtig mit einem Angriffskrieg und damit einer konkreten Not- und Extremsituation konfrontiert sieht, zum Zwecke der Selbstverteidigung und Eindämmung von Krieg und Gewalt mit dem Ziel eines Waffenstillstands und/oder einer unmittelbaren militärischen Lösung. Dieses moralische Urteil aber ist nicht abschließend, sondern kann sich durch neue Erkenntnisse und veränderte Rahmenbedingungen wandeln.
Zudem bleibt insbesondere der Gesichtspunkt der Zielsetzung umstritten und unklar. Für den Ukraine-Krieg lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Zielsetzungen ausmachen: ein Waffenstillstand als Ausgangspunkt für Verhandlungen oder eine unmittelbare militärische Lösung des Krieges. Medienwirksam sprach sich Jürgen Habermas in seinem Plädoyer aus der Süddeutschen Zeitung vom 14. Februar 2023 für Verhandlungen aus, um der Perpetuierung eines zunehmenden Abnutzungskrieges Einhalt zu gebieten. Wie und von wem aber können Verhandlungen angebahnt werden? Wie können diplomatische Räume für Frieden vergrößert und nicht weiter verkleinert werden? Müsste die Ukraine gar bereit sein, territoriale oder andere Konzessionen in Kauf zu nehmen und sich in ihrem Recht zur Selbstverteidigung zu beschränken? Dabei erscheint gegenwärtig bereits fraglich, ob ein Kompromiss angesichts der sich diametral gegenüberstehenden Zielinteressen Russlands (Entnazifizierung der Ukraine, Gebietserweiterung) und der Ukraine (territoriale Souveränität, Ahnung russischer Kriegsverbrechen, Wiederaufbau des Landes) überhaupt vorstellbar ist.
Nicht nur an diesem Punkt unklarer Zielsetzungen setzt die pazifistische Kritik an Waffenlieferungen an. Aktiver gewaltfreier Widerstand wird als Alternative stark gemacht. Rekurriert wird dabei nicht selten auf die neutestamentliche Bergpredigt, allen voran ihre Seligpreisungen. Wenngleich gewaltfreier Widerstand angesichts der russischen Aggressionen allgemein eher kritisch betrachtet wird, ist die damit verbundene Perspektive richtig und wichtig. Denn eine pazifistische Position kann gerade davor schützen, scheuklappenartig nur noch Gegengewalt als einzig aussichtsreiche Option anzusehen.
Sie verlangt aber auch danach, die Bergpredigt als programmatische und stilisierte moralische Lehrrede Jesu aus der Feder des theologischen Autors Matthäus hermeneutisch angemessen, das heißt vor allem kontextsensibel und in seiner richtungsweisenden Kraft fernab falscher Ideologisierung für heute zu verstehen. Dies verlangt von uns Christen zu allen Zeiten neu, ihre Forderungen nicht als unerreichbare Ideale abzutun. Zugleich aber ist wahrzunehmen, dass sich der (Be-)Deutungsgehalt der Bergpredigt mit ihren vielen Auslegungsmodellen nicht generalisierend, zeitübergreifend und abschließend fixieren lässt, dass sie den einzelnen Handelnden vielmehr in seine eigene Verantwortlichkeit entlässt. Ihr Insistieren darauf, nach möglichst gewaltfreien Optionen zu suchen und den Frieden zu stiften, ruft uns Christen heute mehr denn je in ebendiese Verantwortung.
Wer dies ernstnimmt, wird sehen, dass eine pazifistische Position nicht nur in ihrer radikalen Form vertreten werden (bspw. Verantwortungs-, Nuklear- oder Rechtspazifismus) und dass es eine Pflicht zur Nothilfe geben kann, die ein christliches Ethos der Gewaltfreiheit nicht in Frage stellt, sondern davor bewahrt, sich gegen die Menschen zu wenden. Die Bergpredigt verbietet Selbstverteidigung nicht, genausowenig wie legitime Selbstverteidigung die primäre Option für ein Ethos der Gewaltfreiheit generell in Frage stellt.
Letztlich führt der Krieg in der Ukraine neu die friedensethische Spannung zwischen gewaltfreiem Handeln (und dessen Grenzen) und der Möglichkeit legitimer Gewaltanwendung (und der damit verbundenen Eskalationsgefahr) vor Augen. Sie bleibt charakteristisch für die christliche Friedensethik und kann nicht einseitig aufgelöst werden. Der „gerechte Friede“ als ihr Ziel- und Leitbild lässt sich weder als unbedingter Pazifismus noch als kriegsbegeisterter Militarismus angemessen beschreiben. Diese Spannung gilt es auszuhalten.
Kriegstreiber? Putin-Versteher?
„Der Angreifer Russland darf den Krieg nicht gewinnen – darum müssen wir die Ukraine auf jeden Fall unterstützen. Auch mit Waffen. Und auch auf die Gefahr hin, dass Deutschland damit zur Kriegspartei wird!“
„Waffenlieferungen aus Deutschland tragen dazu bei, dass der Krieg in der Ukraine weiter eskaliert und immer mehr Opfer fordert. Das ist nicht akzeptabel. Wir müssen auf jeden Fall diplomatische Wege unterstützen!“
Zwei völlig gegensätzliche Meinungen, um die es zu einer gesellschaftlichen Zerreißprobe kommen kann. Denn: Wer die Diskussionen verfolgt, gewinnt den Eindruck, dass wir an einem Punkt sind, an dem es keinen gemeinsamen Nenner mehr gibt. Während die einen als Kriegstreiber beschimpft werden, sehen sich die anderen als Putin-Versteher gebrandmarkt.
„Selig, die Frieden stiften“ – was heißt das Wort Jesu, auf das wir uns so gern beziehen, in der aktuellen Situation für Sie? Welche Lösung, welchen Ausweg sehen Sie.
Wir möchten Ihre Meinung wissen. Schreiben Sie – per Mail an info@kiz-online.de oder an KirchenZeitung Bistum Hildesheim, Domhof 24, 31134 Hildesheim.