Ein Jesuit aus Lateinamerika, der an die Ränder ging
Der Papst der Armen

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Gastfreundlich: Papst Franziskus bei einem Essen mit wohnungslosen Menschen im Vatikan
Von Pater Martin Maier SJ
„In allem lieben und dienen“ – so lautet ein Leitwort der Jesuiten. Jorge Mario Bergoglio hat den Menschen und der Kirche gedient: als Jesuit, als Bischof und als Papst. Er hat dies unter dem Vorzeichen der Barmherzigkeit getan. Er wollte bei all seinen Schwächen und Grenzen den Menschen die Güte und die Menschenfreundlichkeit Gottes vermitteln – so wie Jesus.
Der Jesuit „vom Ende der Welt“ fand erstaunlich schnell in die „Schuhe des Papstes“, wobei er bezeichnenderweise seine alten Schuhe behielt und einen neuen Stil in der Ausübung des Petrusamtes prägte. Eine klare Richtungsanzeige waren schon seine Namenswahl und wenige Tage nach seiner Wahl der Satz, wie sehr er sich eine arme Kirche für die Armen wünsche. Kompass seines Pontifikats war die Option für die Armen. Dementsprechend sollte die Kirche aus sich heraus und an die sozialen und existenziellen Ränder gehen. Er wollte die Kirche in Bewegung bringen, und zwar in Richtung einer Erneuerung. Er wollte sie auf ihre ursprüngliche Sendung zurückführen: die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat.
Die Unterscheidung der Geister
Die Wahl von Jorge Mario Bergoglio zum Papst bekräftigte die theologische Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils von Karl Rahner als Übergang von einer eurozentrischen Kirche zu einer Weltkirche. Angesichts des demografischen Gewichts Lateinamerikas mit immer noch 35 Prozent aller Katholiken weltweit überraschte es nicht, dass der erste nichteuropäische Papst aus dem Subkontinent stammte. Er hat viele Impulse aus Lateinamerika auf die Weltkirche übertragen.

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Im November 2013 legte er mit dem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium die Programmschrift für sein Pontifikat vor. Die wichtigste Quelle dafür war die Fünfte Lateinamerikanische Bischofsversammlung 2007, die zu einem missionarischen Aufbruch aufrief. Bei der Redaktion des Schlussdokuments hatte er als Erzbischof von Buenos Aires federführend mitgewirkt. In erster Linie ging es ihm dabei um eine Wiederentdeckung der Freude des Evangeliums und eine Erneuerung der Kirche. Als Bischof hatte er die Auswüchse des römischen Zentralismus erlebt. Dementsprechend forderte er eine „heilsame Dezentralisierung“, eine Überwindung des Klerikalismus, eine größere Beteiligung der Laien und insbesondere der Frauen und eine neue missionarische Dynamik der Kirche.
Die Methode, die Papst Franziskus leitete, war die Unterscheidung der Geister, die im Zentrum der ignatianischen Spiritualität steht. Grundlage der Unterscheidung der Geister ist die Überzeugung, dass Gott mit dem Menschen kommuniziert und ihm seinen Willen zeigt. Deshalb lautet eine Kurzformel ignatianischer Spiritualität: „den Willen Gottes suchen und finden“.
In dieser Tradition stand Franziskus. Er verdeutlichte dies in einer Ansprache an italienische Jesuiten 2013: „Ein Schatz der Jesuiten ist die geistliche Unterscheidung, die danach strebt, die Gegenwart des Geistes Gottes in der menschlichen und kulturellen Wirklichkeit zu erkennen, den bereits gepflanzten Samen seiner Gegenwart in den Ereignissen, in den Sensibilitäten, in den Wünschen, in den tiefen Spannungen der Herzen und der sozialen, kulturellen und geistlichen Umfelder.“
In diesem Zusammenhang ist auch der weltweite synodale Prozess zu verstehen, den Papst Franziskus 2019 initiiert hat. Als ein Weg gemeinschaftlicher geistlicher Unterscheidung geht es auf allen Ebenen der Kirche darum, herauszufinden, was Gott von der Kirche heute will. Gott kann die Christen und die Kirche auch durch geschichtliche Ereignisse oder eine soziale Situation ansprechen und herausfordern. Papst Johannes XXIII. hat in diesem Sinn von den „Zeichen der Zeit“ gesprochen. In ihnen zeigten sich für ihn die Gegenwart und die Pläne Gottes in unserer Welt.
Die unklaren Positionierungen
Mit ausgeprägtem Spürsinn hat Franziskus entscheidende Zeichen der Zeit unserer Epoche unterschieden: die weltweiten Flüchtlingsbewegungen, den Klimawandel und das Artensterben, die wachsende globale Ungleichheit, die Bedrohung der Zukunft der Menschheit durch die Atomwaffen, aber auch die wachsende Einheit der Menschheit, die ökumenische und interreligiöse Verständigung und die technologischen Fortschritte. Darauf ging er in seinen Sozialenzykliken ein.
Die Sorge für unser gemeinsames Haus ist das Thema seiner Enzyklika Laudato sí (2015), die weit über kirchliche Kreise hinaus Beachtung fand. Indem er die Atmosphäre, die Ozeane und die Regenwälder zu globalen Gemeingütern erklärte, denen das Privateigentum untergeordnet ist, entwickelte er die katholische Soziallehre in einem wesentlichen Aspekt weiter. Eine Vertiefung fand Laudato sí 2019 in der Amazonien-Synode, in der es um den Schutz der Regenwälder, der indigenen Bevölkerung und eine inkulturierte Kirche „mit amazonischem Gesicht“ ging. In seiner Enzyklika Fratelli tutti über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft (2020) befasste er sich mit den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen. Auch hier setzte er neue Akzente: Die Todesstrafe lehnte er definitiv ab und erklärte schon den Besitz und die Herstellung von Nuklearwaffen als moralisch verwerflich.
Papst Franziskus lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Den Konservativen war er zu progressiv, ja umstürzlerisch, den Progressiven zu bewahrend und zu traditionell. Einigen gingen die Reform- und Veränderungsprozesse zu langsam, für andere unterminierte er die Fundamente der Kirche. Es war kaum zu vermeiden, dass Papst Franziskus die hochgesteckten Erwartungen tiefgreifender Veränderungen in der Kirche nicht erfüllen konnte. Man konnte seine immer wieder unklaren Positionierungen als ein Lavieren kritisieren. Doch als Papst war er auch Diener und Garant der Einheit der Kirche: Er musste sie zusammenhalten.
Kardinal Leonardo Steiner, der Erzbischof von Manaus in Brasilien, sagte, Papst Franziskus sei uns weit voraus. Vielleicht lassen sich die Früchte seines Pontifikats erst in einer Zukunft ernten, die weiter reicht als seine irdische Lebenszeit.
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Zur Person
Pater Martin Maier SJ trat 1979 in den Jesuitenorden ein. 1988 wurde er zum Priester geweiht. Seit 2021 ist er Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat.