Kirchenführung
Der Urknall von Neumünster
Foto: Marco Heinen
Nüchtern und klar präsentiert sich die evangelische Vicelinkirche.
Die Vermeldungen der Pfarrei Seliger Eduard Müller, die im Gottesdienst in St. Maria – St. Vicelin in Neumünster verlesen wurden, waren übersichtlich: Neben dem Kollektenzweck und der Fürbitte für zwei Verstorbene gab es den Hinweis auf eine „Stadtführung auf den Spuren von Vicelin“ mit dem Besuch sowohl der evangelischen als auch der katholischen Vicelinkirche. Angeboten vom ehrenamtlichen Team der Stadt, das verschiedene Führungen im Programm hat und an einem Samstagmorgen erstmals ausschließlich über den Stadtgründer informieren wollte.
Nun, es kam etwas anders. Die vorgesehene Stadtführerin fiel kurzfristig aus, weshalb Koordinatorin Urte Grode übernahm. Außerdem war Gemeindereferentin Julia Weldemann aufmerksam geworden, die selbst verschiedene Kirchenführungen für St. Maria – St. Vicelin entwickelt hat. Ihr ist es ein Anliegen, dass auch die katholische Kirche offen ist und gerade bei solchen Gelegenheiten mit einbezogen wird. Ein paar Telefonate später stand das neue, zweiköpfige Team für die Vicelin-Führung.
Bei bestem Wetter startet die zwölfköpfige Gruppe vor der evangelischen Vicelinkirche, die sich im Schwalebogen befindet, also dort, wo das an dieser Stelle idyllische Flüsschen Schwale eine richtige Kurve macht. Das knappe Dutzend Interessierter macht sich erst einmal auf zur nahen Brücke. „Früher war das hier ein großer Morast, die Schwale mäanderte. Es war undurchdringlicher Urwald. Man war hier am Rande der Zivilisation“, sagt Urte Grode. Es heißt, der heilige Ansgar habe dort im 9. Jahrhundert auf dem Weg ins schwedische Birka eine erste Holzkirche errichten lassen, nahe am Ochsenweg, der damals zentralen Nord-Süd-Verbindung.
Eigentlich war ein Dom geplant
Der heilige Vicelin war es dann, der im 12. Jahrhundert die entscheidenden Schritte auf dem Weg zur Stadtgründung unternahm. Ob er mit dem Bremer Erzbischof Adalbero von Meldorf an der Nordsee nach Wippendorf im Gau Faldera, wie Neumünster damals noch hieß, zog oder ob eine Delegation nach Meldorf gesandt wurde, ist laut Grode ungewiss. Klar ist aber, dass ein Priester fehlte, die Sitten verfielen und die christliche Lehre in Wippendorf bedroht schien, weshalb man den Erzbischof um Hilfe bat. Adalbero hatte ein Einsehen und beauftragte Vicelin. Er traf 1127 ein und gründete ein Chorherrenstift, die „regulierten Herrn von St. Marien“. Später stieß Helmold von Bosau dazu, der Verfasser der Slawenchronik und Biograf Vicelins. Lange bevor er 1149 zum Bischof von Oldenburg geweiht wurde, gab Vicelin eine Nachfolgekirche für den Bau Ansgars in Auftrag, der in keinem guten Zustand mehr war.
Der Neubau war damals eigentlich als Dom mit zwei Türmen geplant, wurde aber immer weiter reduziert. Diese neue Bar-tholomäuskirche sollte als Novum Monasterium, als neues Münster, namensgebend für die Siedlung werden. „Vicelin ist schon so ein bisschen der Urknall für Neumünster gewesen“, wie Urte Grode es gerne ausdrückt. Vicelin traf 1152 bei einem Besuch in Neumünster ein zweiter Schlaganfall. Er blieb dort bis zu seinem Tode im Dezember 1154. Bestattet wurde er ebenfalls dort, doch seine Gebeine wurden umgebettet und erlebten noch eine geradezu abenteuerliche Reise, sodass letztlich nicht klar ist, wo er seine wirklich allerletzte Ruhe fand.
Urte Grode erzählt das alles in der evangelischen Vicelinkirche, in die die Gruppe umgezogen ist. Die Kirche aus gelbem Backstein mit drei Ebenen, die 1834 als Ersatz für die baufällige Bartholomäuskirche errichtet worden war, gilt als bedeutendster klassizistischer Kirchenbau in Schleswig-Holstein. Und groß ist er; bis zu 1700 Menschen finden in der spartanisch ausgestatteten, streng symmetrisch gebauten Kirche Platz, deren Architekt Christian Frederik Hansen unter anderem auch die Marienkirche von Husum entwarf.
Es gibt viel zu erzählen, doch da ist ja noch die katholische Kirche St. Maria – St. Vicelin. Die liegt nur knapp zehn Gehminuten entfernt am Bahnhof von Neumünster. Gebaut 1893, ist sie zwar deutlich jünger, doch dafür umso reichhaltiger ausgestattet als ihr evangelisches Pendant. Julia Weldemann übernimmt jetzt, erzählt von früheren Jahren, als noch mehr Heiligenfiguren und Malereien den Innenraum prägten. „Das ist hier schon die norddeutsch-kühle, angepasste Variante“, sagt sie. Die Gemeindereferentin berichtet, wie es überhaupt dazu kam, dass eine katholische Kirche gebaut wurde.
Eine eigene Kirche als Bedingung
Es war der Streit der örtlichen Textilfabrikanten mit der streikenden Arbeiterschaft, der Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts zum Zuzug zahlreicher Katholiken aus Thüringen und dem Eichsfeld führte. Die Fabrikanten hatten sie als Streikbrecher angeworben, doch kommen wollten sie nur, wenn sie eine katholische Kirche bekämen. Deshalb sei die 1893 binnen zehn Monaten errichtete Kirche „ein Streik- und Streitobjekt“ gewesen, so Weldemann. Entsprechend sei das Verhältnis von Katholiken und Protestanten zueinander anfangs alles andere als gut gewesen. Doch das ist längst anders, in der Stadt habe sich ein lebendiges Miteinander der Konfessionen entwickelt. Sie hoffe sehr, dass es den christlichen Kirchen und der Stadt gelinge, künftig die Bedeutung Vicelins an dessen Todestag am 12. Dezember stärker ins Bewusstsein der Menschen zu bringen, sagt Weldemann.
Doch zurück zu den Anfängen: „Es war damals das erklärte Ziel, Weihnachten in einer eigenen Kirche zu feiern.“ Dafür wäre die Anwesenheit eines Bischofs zwar schön, aber praktisch nicht machbar gewesen. Also wurde die Kirche durch den Pfarrer vier Tage vor Heilig Abend 1893 benediziert.
Kirchen- und Stadtgeschichte, Anekdoten und Architektur – Grode und Weldemann gelingt eine gute Mischung. „Vicelin war mir bekannt, aber es war ganz besonders mit den beiden Kirchen und dem kleinen Gang durch die Stadt. Mir hat es gut gefallen“, resümiert Teilnehmerin Birgit Horstrup nach zwei Stunden Führung. Auch Janina Timpe ist ganz angetan: „Man kennt seine eigene Stadt ja nicht immer so gut. Insofern finde ich es ganz spannend, dass man da noch einmal ein paar andere Einblicke bekommt.“
Führungen
Für Führungen nur durch St. Maria – St. Vicelin wenden sich Interessierte an Julia Weldemann (weldemann@seliger-eduard-mueller.de). Die Vicelin-Führung mit beiden Kirchen kann für Gruppen bis zu 25 Personen zum Preis von 65 Euro auch privat organisiert werden (Kontakt Urte Grode, Tel.: 04321/51331) – vielleicht sogar mit gleich zwei Stadtführerinnen.