Kulturforum Görlitzer Synagoge
Der Katholik in der Synagoge

Foto: Michael Burkner
Frank Seibel auf der Frauenempore der Synagoge. Der Leiter des Kulturforums Görlitzer Synagoge ist Katholik und fühlt sich wohl im ehemaligen jüdischen Gotteshaus.
„Gehen wir auf die Chorempore der Synagoge, da gefällt es mir besonders gut“, sagt Frank Seibel und läuft mit beschwingten Schritten die gebogene Treppe hinauf. Dort oben, hinter dem Ziergitter, das die Empore vom prunkvoll in Gold gestalteten Gottesdienstraum abtrennt, sangen früher zu Fest- und Feiertagen auch christliche Chorsänger. Damals stand hier eine Orgel, nach den Novemberprogromen von 1938 musste die jüdische Gemeinde sie an die katholische Kirche St. Bonifatius im heutigen Zgorzelec verkaufen. Juden und Katholiken waren sich einst ganz nahe in Görlitz, das beweist auch ein Blick aus den Fenstern der Synagoge auf die katholische Pfarrkirche Heilig Kreuz in direkter Nachbarschaft. Im Fenster des Pfarrhauses steht ein siebenarmiger Leuchter der jüdischen Tradition. Katholisch-jüdische Verbundenheit – das gefällt dem Katholiken Seibel, der seit 2022 Leiter des Kulturforums Görlitzer Synagoge ist. Das merkt man, wenn er von seiner Arbeit, der Synagoge und der Geschichte der Görlitzer Juden erzählt und sich dabei ganz selbstverständlich mit dynamischen Schritten durch das ehemalige Gotteshaus bewegt – als wäre es seine eigene religiöse und geografische Heimat.
Der Westdeutsche im Osten
Dabei ist Frank Seibel weder Jude, noch gebürtiger Görlitzer. Er wurde 1965 in einer katholischen Familie in Frankfurt am Main geboren, seine Eltern stammten aus dem brandenburgischen Falkensee. Mit dem Katholizismus seiner Kindheit verbindet Frank Seibel bis heute etwas Dunkles und Strafendes: „Meine Großeltern haben mich streng katholisch geprägt, die Sünde war ein Schlüsselbegriff ihres Glaubens. Er war immer etwas Bedrohliches für mich, zum Beispiel, wenn sich meine Großmutter betont fromm vor ihr Bett kniete und betete, als wäre dies ein Akt der Buße, nicht des vertrauten Zwiegesprächs mit Gott.“ Zu schüchtern zum Ministrieren fand Frank Seibel erst in der katholischen Jugend seinen eigenen Platz im Gemeindeleben, wo er dem Konservatismus seiner Großeltern die Ideen der Befreiungstheologie, der Öko- und der Friedensbewegung entgegenstellte. „Das waren sehr intensive Jahre. Atomkraft und der Kalte Krieg waren damals präsent und ein linker katholischer Ansatz gefiel mir“, erinnert er sich heute. Mit Mitstreitern gründete er eine progressive Jugendzeitung, bis die Ankunft eines neuen, konservativen Kaplans den Aktivismus Anfang der 1980er-Jahre jäh beendete. In der Folge blieben christliche Überzeugungen und Werte zwar bestehen, doch der katholische Glauben verschwand aus Seibels Alltag.
Nach dem Studium begleitete Frank Seibel seine Frau nach Sachsen, wurde Volontär bei der Sächsischen Zeitung und später Redaktionsleiter in Görlitz und Reporter in der Lausitz. Als Westdeutscher, der „eigentlich nie nach Sachsen ziehen wollte“, arbeitete er im ostdeutschen Lokaljournalismus beständig gegen den Vorwurf, Medien würden nur das Negative berichten: „Meine Grundhaltung war immer: Ein großes ‚JA‘, ein kleines ‚aber‘. Mir war es ein Anliegen, die Lebensqualität und die vielen guten Leute der Region sichtbar zu machen.“ In der Wahlheimat Görlitz brachten Schlüsselerlebnisse nach und nach auch den katholischen Glauben zurück, besonders mit der Erstkommunion der Tochter. „In dem Jahr habe ich eine Einladung unseres Pfarrers erhalten, mir am Gründonnerstag symbolisch die Füße waschen zu lassen. Da dachte ich erst: Was mache ich denn jetzt?“, erinnert sich Seibel. Seine fehlende Verwurzelung im katholischen Görlitz bereitete ihm Sorge, nach einem Gespräch mit dem Pfarrer entschied er sich dann aber doch zur Fußwaschung. Eine weitere Annäherung brachte ein Projekt, das Seibel mit drei Görlitzer Mitkatholiken umsetzte: Zehn Jahre lang organisierten sie einen der ersten „lebendigen Adventskalender“ in Deutschland.
2019 war Schluss mit Journalismus und Frank Seibel übernahm die Leitung des St.-Wenzeslaus-Stifts in Jauernick, das er stärker als Bildungshaus profilieren wollte. Die Corona-Pandemie verschaffte ihm „Beinfreiheit für Neuerungen“, als mangelnde finanzielle Ressourcen aber die gesamte Umstrukturierung in Frage stellten, verließ Frank Seibel Jauernick wieder. „Ich passte in diese Struktur nicht mehr hinein.“
Entwicklungshelfer für schwach entwickelte Erinnerungskultur
So wechselte Frank Seibel, der Katholik, der sich inzwischen im kirchlichen Leben in Görlitz eingenistet hatte, vom christlichen Bildungshaus ins Kulturzentrum der Synagoge. Erfahrung in der Gedenkarbeit brachte er mit: Seit 2013 ist er Präsident des Meetingpoint Memory Messiaen, einem deutsch-polnischen Gedenkprojekt, das die Erinnerung an das Kriegsgefangenenlager im heutigen Zgorzelec pflegt. Im Kulturforum der Görlitzer Synagoge, das dem Gotteshaus mit Ausstellungen und Veranstaltungen neues Leben einhaucht, wurde diese Gedenkarbeit nun zu Seibels Beruf – keine einfache Aufgabe in Görlitz: „Es gibt hier eine nur schwach entwickelte Erinnerungskultur. Die breite öffentliche Erinnerung endet in den 1920er-Jahren. Nur Teilen der Stadtgesellschaft sind die NS-Zeit und die DDR bewusst“, nimmt Seibel wahr und berichtet: „Mittlerweile kommt es vor, dass Schulführungen ausfallen, weil Eltern es aus ideologischen Gründen ablehnen, dass ihre Kinder eine ehemalige Synagoge besuchen.“ Seibel sieht in seiner Arbeit noch immer, wie sehr die Gesellschaft von der mangelnden politischen Bildung in der DDR-Zeit geprägt ist, und hat dabei auch Verständnis: „Die Wende war natürlich ein riesiger Umbruch, der die Menschen voll auslastete. Sie hatten einfach keine Kapazität, sich im Alltag mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.“ Nicht nur Schul-, sondern auch Erwachsenenbildung bräuchte es heute. Dass die Fördermittel dafür schmal sind, bereitet ihm Sorge.
Mit dem 7. Oktober 2023 kamen weitere Herausforderungen hinzu: Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel bewacht die Görlitzer Polizei ununterbrochen die Synagoge, der aufflammende Krieg in Nahost und das Vorgehen Israels in Gaza bringt Seibel dabei aber nicht in einen moralischen Konflikt: „Die Situation in der Ukraine beschäftigt mich sogar mehr“, gibt er zu. „Die Politik der Netanjahu-Regierung und die Art der Kriegsführung sehe ich kritisch. Trotzdem steht ein Existenzrecht Israels für mich außer Frage.“ Da ist sie wieder, seine Verbundenheit mit der jüdischen Religion, denn der Katholik Frank Seibel fühlt sich wohl in diesem früheren Gotteshaus.