76 Jahre an der Orgel

„Es bringt mir tiefe Freude“

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Christel Kinzel an der Orgel
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Fotos: Gregor Mühlhaus

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An ihr erstes Lied kann sich Christel Kinzel noch gut erinnern. Es hieß „Lasst uns das Kindlein wiegen“.

Sie ist vermutlich die dienstälteste Kirchenorganistin Deutschlands. Als Christel Kinzel an einem Weihnachtsfest das erste Mal in einem Gotteshaus Orgel spielte, war der 2. Weltkrieg gerade einmal vier Jahre vorbei.

Als sei es gestern gewesen erinnert sich die 88-jährige Christel Kinzel noch immer an das Hirtenamt in der Kirche „St. Mauritius“ in Steinbach am ersten Weihnachtstag des Jahres 1949: „Damals war das Hirtenamt noch früh um sechs Uhr. Ich saß als 12-jähriges Mädchen vor der großen Orgel und hatte echt Bammel. Bis dahin hatte ich nur Bälge getreten, denn der benötigte Luftstrom für die Orgel musste damals manuell erzeugt werden“, erzählt die Rentnerin. Wie sie noch weiß, sei es ein äußerst kalter Dezembermorgen gewesen. „Das kleine Fenster auf dem ‚Mannhaus’ war von Eisblumen bedeckt. Der bis dahin aktive Orgelspieler hatte Wärmflaschen mitgebracht, die ich mir während der Pausen unter meinen Lodenmantel steckte und so mit verschränkten Armen immer wieder meine Finger wärmen konnte“, blickt die rüstige Seniorin auf ihren „ersten Tag“ zurück. Mit einer Größe von 1,40 Metern kam das junge Mädchen noch nicht einmal an die Fußpedale der Orgel. „Und meine Finger waren blau gefroren, sie kribbelten schmerzhaft. Immer wieder fiel mein Blick auf den Reif am Fenster an der Empore.“ Auch ihr erstes Lied auf der Kirchenorgel vergesse sie nicht. Es war das Lied „Lasst uns das Kindlein wiegen“, was natürlich hervorragend ins Weihnachtsrepertoire passte.

Kirchenlieder singen beim Geschirrspülen

Das Orgelspielen hatte die junge Christel von einem Ehepaar, das aus dem Sudetenland vertrieben worden war, gelernt. Auch ein des Musizierens mächtiger älterer Herr aus dem Dorf habe sie unterrichtet, erzählt die Seniorin. „Und meine Mutter war sehr musikalisch. Sie hat zwei- und dreistimmig gesungen und sich selbst das Gitarrespielen beigebracht“, weiß die Steinbacherin, die auf ein bewegtes Leben blicken kann. So denkt sie an den Tag zurück, als sie von ihrer ersten Beichte nach Hause kam und sah, wie dort alle weinten. „Das war kurz vor Kriegsende 1945. Wir hatten die Nachricht bekommen, dass unser Vater, der im Krieg war, vermisst wurde. Dass er gefallen war, sollten wir erst sechs Jahre später erfahren“, erzählt Christel Kinzel. 1956 machte sie Abitur in Heiligenstadt. „Schultaschen hatten wir nicht. Ich erinnere mich, dass wir unsere Schreib- und Lernutensilien auf den Armen durch die Stadt trugen.“ In dieser Zeit saß sie schon seit Jahren regelmäßig an der Orgel in Steinbach. Anfang der 1960er Jahre hatte sie dann die Möglichkeit, ihr musikalisches Können in ihrem Heimatort an junge Menschen weiterzuvermitteln und Religionsunterricht zu geben. Heute singt die 88-Jährige auch schon mal beim Geschirrspülen ein Kirchenliedchen. „Meine Lieblingslieder sind die, die mir in die Seele strahlen“, sagt die Eichsfelderin, deren Stimme noch jung wirkt.

Stromlos beim Papstbesuch

An Sonn- und Feiertagen fährt sie mit ihrem Kleinwagen regelmäßig zu den Gottesdiensten im Ort und begleitet die Messen. Dass sie auch seit Jahrzehnten zum zwei Kilometer entfernten Marienheiligtum Etzelsbach fährt und dort bei jeder Wallfahrt musiziert, weiß nicht nur in Steinbach fast jeder. „Der 23. September 2011 hat unseren Wallfahrtsort durch den Besuch des damaligen Papstes Benedikt XVI. weltbekannt gemacht. Zur Vesper sollte ich damals vor und nach dem Papstbesuch in der Marienkapelle das Tantum Ergo spielen, jedoch blieb meine elektrische Orgel stumm. Da kam der damalige Kölner Kardinal Joachim Meißner zu mir und sagte: ‚Was ist los, Frau Kinzel? Ich hatte mich so auf ihr Tantum Ergo gefreut.‘ Ich zuckte mit den Schultern, bis ich merkte, dass jemand auf mein Stromkabel getreten und mir sozusagen den Stecker gezogen hatte“, kann die Organistin heute noch darüber schmunzeln.

Porträt Christel KinzelImmer wieder musste sie damals Fragen von Neugierigen beantworten, die Etzelsbach das erste Mal besuchten. „Warum liegt Jesus auf Marias Schoß bei der Pieta in Etelsbach anders herum, als bei den meisten anderen Pietas, die es gibt?“ oder „Wo genau wird der Papst neben der Kapelle sprechen, wenn er am 23. September kommt?“ Zumindest die letzte Frage konnte auch sie nicht beantworten. Im jetzigen Papst Leo XIV. sehe sie den jungen Wojtyla, also Papst Johannes Paul II., wie sie sagt. „Irgendwie hat er die Augen. Aber von Franziskus hat er auch etwas“, meint Kinzel. Immerhin ist Papst Leo XIV. das achte Kirchenoberhaupt, das sie erlebt. „Ich weiß noch, als sie in Sänften getragen wurden“, erinnert sich die Seniorin.

„Ich sage nicht, dass mir das Orgelspielen Spaß macht. Nein, mehr, es bringt mir eine tiefe Freude. Das ist etwas anderes als Spaß“, ist sie sicher und fügt hinzu: „Ich darf helfen, dass die Gläubigen musikalisch ihre Seelen nach oben erheben.“ Wenn Christel Kinzel in Etzelsbach eines ihrer Lieblingslieder – „All eure Sorgen, heute und morgen, bringt vor ihn…“ – solistisch spielt, könnte man eine Stecknadel fallen hören, so ruhig ist es dann. Auch wenn sie sich mal verspielt, hat sie immer ein gutes Wort für den Herrgott parat und sagt:  „Lieber Gott verzeih, das war meine Schuld.“ Kinzel redet oft mit Gott, und das nicht nur gedanklich. „Ich rede mit ihm. Ich flüstere leise vor mich hin, spreche ihn an und so gibt es immer eine Kommunikation“, sagt sie und verrät noch, dass Leute oft zu ihr sagten: „Christel, du wirst ja überhaupt nicht älter.“ Jenen entgegnet sie dann: „Ich habe keine Zeit, älter zu werden.“ Am 24. Dezember, dem Heiligen Abend, wird die Steinbacherin im 77. Jahr an der Orgel in „St. Mauritius“ sitzen. Nicht nur sie hofft dann, dass noch viele Jahre hinzu kommen.

Gregor Mühlhaus