Corinna Kohröde-Warnken begleitet Sterbende

Das Hospiz ist ein guter Ort

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Hospizbegleiterin vor Wand mit Bibelspruch
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Foto: privat

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Corinna Kohröder-Warnken im Hospiz "Zum Guten Hirten" in Rotenburg/Wümme

Corinna Kohröde-Warnken besucht Menschen, die in einem Hospiz leben. Sie hört zu, was sie bewegt und hilft dabei, letzte Briefe an Freunde und Angehörige zu schreiben. Die Buchautorin und gelernte Intensiv-Krankenschwester kann sich gut einfühlen – auch, weil sie selbst schon einmal den Tod vor Augen hatte.

Als die Tür aufgeht, sitzt Alexandra, eine Frau Anfang 50, aufrecht im Bett und lächelt freundlich. Ihre Haare wachsen hellblond nach, eine Infusion ist mit einem großen weißen Pflaster in der Nähe des Schlüsselbeins fixiert. Corinna Kohröde-Warnken erinnert sich an solche Details, denn Alex war die Erste, die sie begleiten durfte – und eine Lehrmeisterin für so viele, die nach ihr kommen würden. Alex machte ihr den Einstieg leicht und lehrte sie, wie bedingungslos die Begegnungen im Hospiz sind.

Kennenlernen, vertraut sein – das geht im Hospiz schnell, denn niemand weiß, wie viel Zeit noch bleibt. Manchmal verabschiedet sich Kohröde-Warnken mit „Bis zum nächsten Montag“, aber es gibt gar keinen nächsten Montag. Mit Alex, die in Wahrheit anders heißt, verbringt sie ein gutes halbes Jahr und hilft ihr, Abschiedsbriefe zu schreiben. Auch an ihren Mann. „Dazu hat uns eine Schwester Cocktails gebracht, wir wollten den Moment würdigen.“ Eines Tages zeigt ihr Alex einen schwarzen Jumpsuit, den sie sich bestellt hat, festlich, mit Spitze, sehr elegant. Ihr Sterbe-Outfit. Aber er ist zu lang, und Alex veranlasst, dass der Saum gekürzt wird. „Der Jumpsuit sollte richtig passen, auch im Sarg, das war ihr wichtig.“

Manche Gäste verdrängen ihren nahen Tod, manche halten Rückschau: Was war gut? Was war schlecht? Was habe ich versäumt? Einige rechnen noch drastisch ab. Die Gefühle fahren Achterbahn. Immer schwingt auch Hoffnung mit – und sei es die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Sterben, sagt die ehrenamtliche Hospizbegleiterin, sei nach der Geburt die wohl intimste und individuellste Angelegenheit im Leben. Umso dankbarer ist sie für Alex. „Ich durfte mich ausprobieren, sie musste es. Sterben kann man nicht üben.“ Ein Satz, der sich ihr einprägt hat – und der sogar zum Buchtitel geworden ist.

Corinna Kohröde-Warnken, Jahrgang 1966, ist gelernte Intensiv-Krankenschwester und Hochschuldozentin für Pflege. Sie lebt in Rotenburg/Wümme, zwischen Bremen und Hamburg, und arbeitet seit vier Jahren ehrenamtlich im Hospiz „Zum Guten Hirten“. Ihre Begegnungen dort haben die mehrfache Buchautorin zu ihrem neuen Buch inspiriert. Darin erzählt sie – verfremdet und anonym – kurze Geschichten von Menschen in ihrer letzten Lebensphase. Berührend, heiter, nachdenklich, einzigartig. Sie alle handeln viel weniger vom Tod, als von dem, was wirklich wichtig ist im Leben.

Ein halbes Jahr, höchstens, sagt der Arzt

Montags ist Schreibtag. Viele Gäste nutzen dann die Möglichkeit, Briefe an den Ehemann oder die Ehefrau, die Kinder, Enkel, Eltern, die beste Freundin oder auch für sich selbst zu verfassen. Wer nicht mehr zu Papier und Stift greifen kann, dem leiht Corinna Kohröde-Warnken ihre Hände. Sie besorgt Postkarten und schönes Briefpapier und notiert letzte Worte. Ohne sie zu bewerten.

„Ich biete das an, was ich gut kann und was mir selbst geholfen hat“, sagt die gläubige Christin. 2007 erkrankt sie an Krebs, ein Jahr später erneut, und 2012 bekommt sie eine palliative Diagnose. Ein halbes Jahr, höchstens, sagt ihr der Arzt. Sie muss sich zwangsläufig mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen und beginnt, tagebuchähnliche Briefe zu schreiben. „Damals habe ich überlegt, dass ich gern im Gedächtnis und im Herzen meiner Lieben bleiben möchte. Erinnerungen sind Spuren, die wir hinterlassen.“

Corinna Kohröde-Warnken wird gesund. Als sie erfährt, dass in ihrer Nachbarschaft ein Hospiz gebaut wird, weiß sie sofort, dass dort eine Aufgabe auf sie wartet. Durch ihre Vorgeschichte hat sie eine Ahnung, wie Sterben gehen könnte, doch sie lernt noch viel dazu. „Natürlich wird im Hospiz gestorben, aber nicht nur. Es findet auch unglaublich viel Leben statt“, sagt sei. Es wird gelacht, es werden Feste gefeiert, wie sie fallen: Hochzeiten, goldene Hochzeiten, runde Geburtstage mit langen Tafeln, die bis in den Flur hinausreichen. Alles sehr pietätvoll gestaltet.

Auch nach Tod riecht es nicht – wie riecht der überhaupt? „Eigentlich riecht es immer nach Kuchen, immer kocht, backt oder brutzelt dort jemand unermüdlich die leckersten Gerichte: Waffeln, Kuchen, Spiegeleier, Milchreis – alles, was man sich nur wünschen kann“, sagt Kohröde-Warnken.

Mit dem, was mir anvertraut wird, gehe ich sehr respektvoll um.

Das Hospiz „Zum Guten Hirten“ wird im Sommer 2021 mit neun Gästezimmern in Betrieb genommen, mitten in der Corona-Pandemie. Die Zimmer sind in unterschiedlichen Farben gestrichen, haben passend lange Gardinen vor den doppelten bodentiefen Fenstern und Türen, die auf eine separate Terrasse führen. Man darf eigene Bilder, Bettwäsche, Möbel und Deko mitbringen. Wenn jemand gestorben ist, wird ein türkisfarbenes Herz an die Zimmertür gehängt und eine Erinnerungskerze im Eingangsbereich entzündet. Diese brennt so lange, bis der Verstorbene das Hospiz durch die Eingangstür für immer verlassen hat.

Die Währung im Hospiz ist Zeit. „Wenn mir sterbende Menschen etwas von ihrer kostbaren Lebenszeit schenken, fühle ich mich beschenkt“, sagt Kohröde-Warnken. Es sei eine große Ehre, diesen Menschen zuzuhören. Manchmal sind es „unglaubliche Geschichten“, die sie erlebt haben, Geschichten, die nicht immer schön sind. „Mit dem, was mir anvertraut wird, gehe ich sehr respektvoll um.“

Oft bringt sie kleine Bronzeengel mit, die gerade so in den Handteller passen. Auch für Herta, Anfang 70. In ihrer Hand wird der Engel ganz warm, als ob er lebendig ist. Das tröstet Herta, wenn sie Angst hat. Denn natürlich gibt es Ängste, sagt Kohröde-Warnken, „die Gäste sind deshalb sehr dankbar, wenn sie etwas zum Festhalten haben“. An die lebensfrohe und weitgereiste Herta erinnert sie sich auch noch aus einem anderen Grund: weil ihr die Familie einen letzten Herzenswunsch erfüllt hat. Der Wünschewagen brachte sie zur Hamburger Elbphilharmonie, wo sie den Dresdner Kreuzchor genießen konnte.

Auch mit Johann, einem älteren Herrn um die 80, verbindet sie eine besondere Geschichte. Er will unbedingt eine Karte nach Amerika schreiben, an einen früheren Freund in Florida. Seit über 30 Jahren hat er nichts von ihm gehört und ist sich nicht sicher, ob der Freund noch lebt. Deshalb verspricht die Hospizbegleiterin, im Internet zu recherchieren und die Karte noch am selben Tag zur Post zu bringen. Gesagt, getan. Das Warten auf eine Antwort beginnt.

Hochzeit, als sie selbst todkrank ist

Irgendwann erhält sie per WhatsApp ein Foto von der Hospizleitung. Darauf zu sehen: ein dicker Briefumschlag mit Johanns Namen und einer Briefmarke aus den USA. Im Buch beschreibt sie es so: „Eine ganze handschriftliche Seite in Englisch wartete darauf, gelesen zu werden. Satz für Satz las ich vor, und Johann und ich übersetzten gemeinsam den Inhalt, was uns erstaunlich gut gelang. Dann betrachteten wir die Fotos, die dem Brief beilagen, und Johann erzählt die Begebenheiten dazu.“

Was denkt Corinna Kohröde-Warnken heute über den Tod und das Leben? Sie lächelt. In ihren Ehering eingraviert ist der Schriftzug Carpe diem. Übersetzt: Nutze den Tag. „Wir wissen nicht, wie lange wir Zeit haben“, sagt sie. „Ich habe geheiratet, als ich selbst todkrank war. Das Leben ist etwas Wunderbares, bis zum Schluss.“ Das Sterben als Teil des Lebens zu akzeptieren, sei hilfreich, sagt die Autorin. Ihre Botschaft lautet: Keine Angst vorm Hospiz, es ist ein guter Ort.

Wie alle Geschichten im Hospiz geht auch die Geschichte mit Alexandra zu Ende. „Ich glaube, er holt mich“, sagt Alex eines Tages zu Corinna Kohröde-Warnken. Die wischt ihr mit einem nassen Waschlappen über das kaltschweißige Gesicht und fragt aus einem Impuls heraus, ob sie einen Segen sprechen solle, Alex nickt, und so hält sie die Hände über sie, spricht mit zittriger Stimme den Aaronitischen Segen und macht ein Kreuzzeichen auf ihre Stirn. Als sie die Tür hinter sich schließt, fällt ihr ein, dass sie den letzten Satz des Segens vergessen hat. Kurz erschrickt sie, ist sich aber sicher, dass er trotzdem wirkt. Am nächsten Montag brennt im Eingangsbereich eine Kerze für Alex.

Anja Sabel