Ulrike Lynn will christliches Wirken kreativ nach außen tragen

In der Seh-Schule

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Ulrike Lynn will durch die Kulturkirche2025 christliches Wirken kreativ nach außen tragen.
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Foto: Ruth Weinhold-Heße

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Ulrike Lynn will durch die Kulturkirche2025 christliches Wirken kreativ nach außen tragen.

Dass Chemnitz 2025 Europäische Kulturhauptstadt wird, hat einigen Staub aufgewirbelt und die Christen der Stadt näher zusammengebracht. Die Katholikin Ulrike Lynn möchte Kirchen als kulturelle Orte sichtbar machen.

„Chemnitz ist keine Stadt für die Liebe auf den ersten Blick“, gibt Ulrike Lynn zu und lacht, denn: Wie langweilig wäre das denn? Dass die Zugezogene sich für die sächsische Stadt mit dem großen Karl-Marx-Kopf im Zentrum, mit sozialistischen breiten Paradestraßen an DDR-Neubaublocks entschieden hat, war zunächst praktisch: Als junge Wissenschaftlerin hätte sie sonst zwischen Berlin und ihrem Arbeitsort, der Technischen Universität in Chemnitz, pendeln müssen.

Aber es war auch mutig, denn Lynn hatte eine in der deutschen Wissenschaftslandschaft übliche befristete Projektstelle und bereits zwei Kinder. Ihr Mann, ein amerikanischer Musiker, war örtlich nicht gebunden. Und so fiel die Wahl auf die Stadt, die nicht immer ein gutes Image hat, dafür einen der höchsten Altersdurchschnitte in Europa. 

„Das ist wie ein Durchlüften, es bewegt sich ganz viel“

Lynn, die in Linguistik promovierte und sich auf Gestenforschung spezialisierte, ist inzwischen Lehrerin an der Chemnitzer Kreativitätsgrundschule. Was sie an Chemnitz jetzt liebt? „Wenn man sich auf die Stadt einlässt, kann man großen Freiraum finden. Hier ist unheimlich viel möglich“, sagt Lynn.

Der gebürtigen Erfurterin fällt auf, dass es in Chemnitz eine große Offenheit für Neues und für Veränderung gibt. „Im Vergleich zu Berlin gibt es hier wenig, aber was es gibt, ist intensiv. Man kann die Stadt selbst mitgestalten“, so Lynn. Das tut sie nun als Beauftragte der katholischen Kirche für die europäische Kulturhauptstadt 2025. 

Mit der Bekanntgabe des Kulturhauptstadttitels war klar, dass das eine Chance für die Kirchen ist. „Die Christen in der Stadt gehen in einen tiefen Dialog miteinander, auch mit Menschen, die keinen christlichen Hintergrund haben, und Kirchen öffnen sich nach außen. Das ist wie ein Durchlüften, es bewegt sich ganz viel. Und diese Bewegung hat mich von Anfang an fasziniert“, sagt Lynn. Dabei wünscht sie sich unter anderem, dass die bisher wenig beachteten rund zwei Prozent Katholiken in Chemnitz mehr wahrgenommen werden.

Ulrike Lynn bei einer Lesung
Ulrike Lynn bei einer Lesung
Foto: Robert Krokowski

Lynn engagierte sich von Beginn an ehrenamtlich in der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft, aus der die Kuturkirche2025 hervorging. „Ich sehe mich dabei eher als Multiplikator. Ich möchte Menschen vernetzen und sie ermutigen, selbst etwas beizusteuern, kreativ zu werden“, sagt die 43-Jährige. 

Verbinden will sie unter anderem die Generationen durch ein Erzählprojekt in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv, bei dem die Älteren ihre Lebenserfahrung weitergeben. Senioren sollen von ihrem Leben erzählen, das durch die Transformationen des 20. Jahrhunderts geprägt wurde. „Das Alter birgt so viel Schönheit und Echtheit, die wollen wir sichtbar machen“, erklärt sie. 

Dabei findet Lynn, dass Jüngere gerade von den Brüchen im Leben der Älteren profitieren. „Lebensbrüche zeichnen uns aus, und es ist wichtig, sich mit der eigenen Geschichte zu versöhnen.“ Sie selbst verarbeitet seit ihrer Kindheit Erlebnisse dadurch, dass sie Texte schreibt, oft Lyrik. Darin beschäftigt sie sich auch mit ihrer Suche nach Gott. „Mein Beten ist heiser (...) Was Lob sein müsste und Ehre, was laut und deutlich in die Welt gehört, Dein Name – ist auf meinen rauen Lippen nicht mehr als die leise, verhaltene Frage – nach Dir“ heißt es in ihrem Gedicht „Geständnis“. 

Wenn sie ihre Texte vorträgt, wird Ulrike Lynn oft von Musikern begleitet. „Bei der Verbindung mit unterschiedlichster Musik – etwa Orgel, Cello, Harfe oder Saxophon – entsteht immer eine neue Interpretation meiner Texte“, sagt Lynn. 

„Das Ungesehene sichtbar machen“ als spiritueller Impuls 

Ihr Gottesbild, in der Kindheit sehr traditionell vermittelt, wandelte sich, als sie zum Studium nach Berlin zog. Sie wohnte in Pankow gegenüber dem Franziskanerkloster mit seiner Suppenküche. „Wenn ich aus dem Fenster schaute, habe ich gesehen, was ein Leben als Christ noch sein kann, dass Kirche offen und menschennah sein darf. Dadurch wurde der unerreichbare Gott für mich fassbarer, natürlicher und lebendiger. Das hat mich tief geprägt“, erzählt Ulrike Lynn. 

Das Kulturhauptstadtmotto „See the Unseen“ (das Ungesehene sichtbar machen) versteht sie durchaus als spirituelle Aufforderung. Wobei nicht nur das Kulturhauptstadtjahr 2025 zähle; der Weg dahin sei mindestens genauso wichtig. „Unsichtbares sehen lernen, ist ein Prozess, keine Höhepunkt-Veranstaltung“, sagt Lynn. „Wenn es uns gelingt, gemeinsam durch diese Seh-Schule zu gehen, werden unsere Stadt und ihre Region ganz selbstverständlich ihre Geheimnisse offenbaren. Das wäre dann ein großer und nachhaltiger Erfolg.“

Ruth Weinhold-Heße