Interview mit Domkapitular Martin Tenge, Personalreferent Seelsorge

Die Personaldecke ist dünn

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Deutliche Worte hat Pfarrer Stefan Lampe im Pfarrbrief seiner Kirchengemeinden Wohldenberg, Seesen und Bad Gandersheim gewählt. Angesichts der Größe des Zuständigkeitsbereichs seiner Gemeinden fragt er: „Wie soll das gehen?“ Er ist da kein Einzelfall. Die KiZ hat mit Domkapitular Martin Tenge gesprochen, dem Personalreferenten Seelsorge.


 


Domkapitular Martin Tenge ist im
Bistum Hildesheim Personalreferent
für die pastoralen Berufe.

Wie sieht die aktuelle Situation beim Personal „Seelsorge“ aus?

Es ist schwierig, sie präzise zu beschreiben. Wir erleben, und das nicht erst seit gestern, dass das Kleid nicht mehr passt. Die Rahmenbedingungen, wie wir als Kirche im Bistum Hildesheim unterwegs sind, haben sich so verändert, dass der Rahmen mit denen, die den Rahmen füllen sollen, nicht mehr zusammenpasst. Das gilt für das hauptamtliche Personal als auch für die ehrenamtlich Engagierten. Es werden weniger, während die Anforderungen bleiben, manchmal sogar größer werden.

Gleichzeitig nehmen wir wahr, dass sich die Stimmungslage in Kirche und gegenüber Kirche massiv verändert hat. Das sind keine fassbaren Zahlen und Fakten, es sind vielmehr Stimmungen, die aber wirkmächtig und oft relevanter sind als die äußeren Faktoren. Missbrauch, Synodaler Weg, Skandale und andere Themen sind alles Faktoren, bei denen man merkt, dass Identifikation mit Kirche bröckelt, die Anfragen an Kirche zugleich größer werden. Früher hatte Kirche einen wichtigen sozialen Status sowie bestimmte Funktionen wie Heimat und Zuhause, eben der Ort, wo man Menschen kennenlernt und Freundschaften bildet. Das Sozialgefüge hat sich aber deutlich verändert, weil Menschen soziale Beziehungen nicht mehr automatisch in Kirche suchen. Im Gegenteil: Das Thema Kirche erschwert vielfach menschliche Beziehungen.

Was heißt das konkret für die Seelsorge?

Kirche ist für viele Menschen nicht mehr so existenziell wichtig wie früher. Ich glaube, dass für viele weiterhin Religiösität wichtig ist: Gottesdienst, Gebet, Nachdenklichkeit, Stille, Frage nach dem Sinn des Lebens, Bestärkung im Leben durch den Glauben. Das ist ein Bedarf, der notwendig bleibt. Nur bin ich nicht sicher, ob und wie Menschen diesen Bedarf in der Feier unserer Gottesdienste und im Leben der Gemeinde erfüllt finden.

Liegt das auch an den Erfahrungen aus der Corona-Zeit?

Wir erleben zurzeit, dass nach den pandemiebedingten Reglementierungen Menschen wieder in die Kirchen zurückkommen. Aber es gibt viele, die aus ihrer Corona- Erfahrung heraus für sich sagen: „Ich habe eine größere Freiheit und kann auch zu Hause bleiben. Ich muss nicht jeden Sonntag zur Kirche gehen.“

Das ist eine riesengroße emotionale Gemengelage, die das Engagement für Kirche – ich setze mich dafür ein und bringe mich da ein –, deutlich weniger werden lässt. Dafür waren auch die kürzlichen Gremienwahlen ein Indikator. Weder die Kandidatenlage noch die Wahlbeteiligung haben das Signal gegeben: „Das ist alles ganz toll.“ Machen diese Formen von Beteiligung noch Sinn? Ein bisschen radikal gesprochen: Die Errungenschaft der Demokratie in der Kirche durch Gremienwahlen interessiert kaum mehr. All diese Fragen wurden durch Corona noch verstärkt.

Hat dies Auswirkungen auf den Nachwuchs für die pastoralen Berufe?

Wir haben seit vier Jahren wieder Ausbildung in den pastoralen Berufen, also neben der Priester- und Diakonenausbildung auch wieder die Ausbildung von Gemeindereferentinnen und -referenten sowie Pastoralreferentinnen und -referenten. Doch die Zahlen derer, die noch vor zwanzig Jahren Interesse an einem kirchlichen Beruf hatten, gibt es heute nicht mehr. Der Nachwuchs bei den pastoralen Mitarbeitenden fehlt einfach. Ich kann das aus Sicht der jungen Menschen sogar gut verstehen. Damit fehlen uns in Kirche aber die frischen und oft unorthodoxen Fragen der jungen Leute, die zwar nicht immer recht haben, die aber wenigstens die wichtigen Fragen stellen.

Bei Priestern erlebe ich es so, dass wenn Sie in Leitung gehen wollen, dies in großen Pfarreien oder großen Gebilden geschieht. Damit können sie das, wofür sie angetreten sind, nicht mehr in dem Maße umsetzen, wie sie es gern würden. Das ist der Spagat zwischen Management und Seelsorge. Beides ist nicht voneinander zu trennen, weil z.B. auch Seelsorge Rahmenbedingungen benötigt. Es muss ein rechtes Maß geben – für Management und für Seelsorge. Attraktiv ist der Priesterberuf derzeit jedenfalls nicht. Und das bei Weitem nicht nur wegen des Zölibats.

Insgesamt wird die Personaldecke im pastoralen Bereich immer dünner. Wie wird das in Zukunft aussehen?

Zunächst bedeutet weniger Nachwuchs und vermehrter Eintritt in den Ruhestand bei Mitarbeitenden eine kontinuierliche Reduzierung des pastoralen Personals. Daher brauchen wir mehr Nachwuchs in den vorhandenen kirchlichen Berufen und zugleich das Gewinnen von Frauen und Männern im Pastoralen Dienst, die sich auch mit anderen beruflichen Kompetenzen in die Pastoralteams einbringen können.

Noch im Stellenplan 2020, der aus dem Jahr 2008 stammt, war bei den Priestern klar: nach der Kaplanszeit wurde man Pfarrer. 2015 schon hat man dann gesagt, dass nicht jeder Priester Pfarrer werden muss beziehungsweise kann. Da wurde die Rolle des Pastors eingeführt, der ein vollwertiger Seelsorger ist, der Verantwortung für seine Aufgabenbereiche übernimmt und in einem Team mit einem leitenden Pfarrer zusammenarbeitet. Wir haben also die Rollen Kaplan, Pastor und Pfarrer. Diese Rollen sind aber intern noch nicht hinreichend reflektiert. Es gibt immer noch Priester, die hier den Pastor als Abwertung empfinden, was nicht der Fall ist. Ich finde es prinzipiell gut, dass es auch im Priesteramt unterschiedliche Formen gibt, dies zu leben.

Wie viele Pfarrer haben wir zurzeit in der Gemeindeleitung?

Tagesaktuell sind es 59 leitende Pfarrer für 119 Pfarrgemeinden. Leitender Pfarrer ist, wer eine oder mehr Pfarreien allein oder mit einem Team leitet. Perspektive ist, dass wir 45 Einheiten haben, die wir ÜPE-Bereiche nennen (ÜPE = Überpfarrlicher Personaleinsatz), die jeweils von einem Pfarrer und einem Team geleitet und begleitet werden. Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis wir entsprechend noch 45 Pfarrer haben werden. Mit den Planungen bereiten wir uns auch auf diese Situation vor. Die Umsetzung erfolgt nur oft schneller, als vorherzusehen war. Und leider wird es auch danach ein Absinken der Priester- und Pfarrerzahlen geben, sodass wir schon jetzt um die Diskussion von alternativen Leitungsmodellen für Pfarreien nicht umhinkommen.

Was bedeutet das für die pastorale Arbeit?

Wir werden in den Pfarreien und Kirchorten nicht alles aufrechterhalten können, was wünschenswert wäre. Es gilt zu prüfen, ob heute wirklich alles sinnvoll ist, was früher sinnvoll war. Es haben sich so viele Rahmendaten in Kirche und Gesellschaft als auch bei den Menschen verändert, dass die Bilder von früher heute nicht mehr passen, Die Diskussion um die Personalausstattung ist damit immer auch eine Diskussion um die Leitbilder, die wir im Kopf und Herzen haben. Auch die passen für die heutige Zeit oft nicht mehr, ohne dass sie deshalb in der Vergangenheit nicht höchst bedeutsam gewesen wären. Ich möchte die Erfahrungen meiner eigenen Jugendzeit in der Pfarrei nicht missen. Zugleich weiß ich sehr wohl, dass der Kontakt zwischen Jugend und ihrer Kirche ganz anders aussieht und aussehen muss als zu meiner Jugendzeit.

Um herauszufinden, was heute ein guter Weg sein kann, bedarf es eines offenen Hinschauens, wie wir heute das Evangelium leben und weitersagen können. Also gilt der erste Blick nicht dem

Erhalt der Formen, Bilder und bisheriger Erfahrungen, sondern der Grundfrage: Wozu sind wir da? Und wie können wir das heute glaubwürdig umsetzen?

Es ist ein großes Problem unserer pastoralen Mitarbeitenden, dass sie vielerorts Erwartungen von „Dienstleistungen“ gegenüberstehen. Unsere Mitarbeitenden in der Pastoral sind bereit, Verantwortung auch in größeren Einheiten zu übernehmen, wofür ich sehr dankbar bin. Leider bekomme ich immer wieder mit, dass sie von den eigenen Gemeindemitgliedern hören müssen: „Ach, sind Sie auch mal wieder da?“ Solche Vorwürfe motivieren wahrlich nicht.

Wie kann das aufgefangen werden?

Wahrscheinlich ist es weiterhin nötig, die Aufgaben der Hauptberuflichen und die der ehrenamtlich Engagierten zu reflektieren. Die Hauptberuflichen sind nicht die Versorger der Pfarreien mit Dienstleistungen. Die Ehrenamtlichen sind nicht die Helferlein der überlasteten Hauptberuflichen. Die Ehrenamtlichen sind die eigentlichen Träger und Trägerinnen der Pfarrei. Hauptberufliche sind für mich diejenigen, die sie dabei unterstützen, die Gesprächsräume schaffen, motivieren und begeistern. Hauptberufliche und Ehrenamtliche gestalten gemeinsam das Leben der Pfarrei in lebendigen, gemeinsam getragenen Gottesdiensten, bei der Sakramentenspendung, in der Katechese und nicht zuletzt im sozialen Engagement für die Menschen um sie herum.

Werden die ÜPE-Bereiche größer werden oder wird es vielleicht doch weitere Gemeindefusionen geben?

Bischof Heiner hat entschieden, dass es keine weiteren angeordneten Gemeindefusionen geben wird. Zugleich vermute ich, dass es Pfarreien gibt, die auf Dauer ihren Status nicht halten können. Das klingt natürlich wie ein Scheitern. Mir ist es aber deutlich lieber, einen lebendigen Filialkirchort zu haben, an dem mit Freude Gottesdienste gefeiert und Aktivitäten entfalteten werden, als eine Pfarrei, die die vielen Aufgaben, die damit zusammenhängen, nur mit Hängen und Würgen leisten kann.
Wenn das Kleid nicht mehr passt, kann man versuchen, sich hineinzuzwängen. Man kann aber auch das Kleid bearbeiten, dabei wichtige Elemente beibehalten und dem Ganzen doch eine neue und attraktive Form geben.

Interview: Edmund Deppe