Theaterprojekt lädt zum Austausch ein
Einsamkeit im Rampenlicht

Foto: Thomas Osterfeld
Gemeinschaft kann auch erdrücken, wenn sie nicht passt.
Andächtig rührt Frau Teigsen in ihrer Schüssel. Sie spricht zu sich selbst: „Ich hecke heute ein nützliches Brot aus.“ Das macht die Seniorin oft. Vor allem, wenn sie einsam ist. Sie backt ein Brot, schneidet es in Scheiben, friert es ein. So habe sie immer etwas im Haus, betont sie – falls einmal Besuch kommt. Sie rührt, spricht und tanzt mit ihrer Schüssel über die Bühne. Produktiv sein, das ist ihr Rezept gegen die erdrückende Einsamkeit. Sie nennt es „nützliche Dinge aushecken“.
Eigene Erlebnisse prägen die Rollen
Frau Teigsen ist eine von sechs Protagonisten im Theaterstück „Alleinsamkeiten“ einer freien Schauspielgruppe aus Osnabrück. Das Stück ist kein Regie-Theater mit fertigem Konzept. Die Schauspieler haben den Inhalt gemeinsam entwickelt, ihre eigenen Gedanken und Erlebnisse, sich selbst in ihre Rollen mit eingebracht. So entstand die brotbackende Frau Teigsen, gespielt von Dagmar Dethlefsen. Weiter gibt es Herrn Tassmacher, der immer eine Tasse Kaffee gegen seine Antriebslosigkeit trinkt, Frau Pflänz, die es liebt, ihre Blumen zu gießen und davon träumt, selbst blühen zu können, Frau Schreiber, die gestresst und einsam im Homeoffice arbeitet und lieber rausgehen würde, Frau von Büchen, die frustriert mit einem Buch allein im Restaurant sitzt – und Herrn Müßig, der im Gegensatz zu allen anderen das Alleinsein liebt.

Wenn das Licht die Bühne erhellt, beginnen Szenen aus dem alltäglichen Leben mit berührenden Dialogen und Monologen von Menschen, die einsam sind – jeder auf seine Art. Regisseurin Annelie Möller greift mit ihrem Theaterstück, das ihr Abschlussprojekt in der Ausbildung zur Theaterpädagogin ist, ein aktuelles Thema auf. Die Idee hierzu kam der jungen Frau im Fitnessstudio, wo sie beobachtete: „Die Leute trainieren hier nebeneinander, jeder ist für sich und mit sich, hat Musik im Ohr. Es ist wenig Austausch da.“ Sie sagt: „Einsamkeit betrifft alle Generationen. Es gibt auch in meinem Umfeld Menschen, die tagsüber allein im Homeoffice sitzen und danach noch allein zum Sport gehen.“
Annelie Möller suchte Schauspielfreudige. Und es meldete sich eine bunte Mischung von Menschen aller Generationen. Mit der Regisseurin setzten sie sich mit dem Thema auseinander – inhaltlich und schauspielerisch. So lauteten Übungen und Aufgaben: „Wie fühle ich mich, wenn ich einsam bin? Und welche Handlung verbinde ich mit diesem Gefühl?“ Alle suchten sich ein Requisit – und schrieben ihre Monologe. „Die Texte sind wunderschön. Ich war ganz platt“, erzählt Annelie Möller begeistert und blickt stolz auf das Ergebnis.
Entstanden ist ein Theaterstück, das berührt und das erforscht – den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsam sein, den Spagat zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft. Die Bühne ist spärlich bestückt, es gibt kaum Requisiten, die Schauspieler sind das Wesentliche. Und sie alle fragen sich: Ist Einsamkeit eigentlich immer etwas Schlechtes oder Unerträgliches? Tut es nicht gut, auch mal allein etwas auszuhecken? Und wie kann ich daran wachsen?
Frau Teigsen betritt die Bühne, schaut durchs Publikum, sagt: „Ich kenne die Einsamkeit. Ich habe sie mehrfach erlebt und gelernt, damit umzugehen.“ Sie beginnt mit dem Backen. Zunächst freudig, dann jedoch quält sie der Gedanke an die Zukunft, wenn die Freunde sterben, die Familie fremder wird, niemand mehr ihr Brot isst: „Was hecke ich dann aus?“, fragt sie. Herr Müßig rät: „Wer so viel ausheckt, kann schnell hektisch werden. Du darfst auch einfach mal nichts tun.“
„Viele Menschen meinen, wer einsam ist, mit dem stimmt was nicht“
Diese Wechselwirkung von Nähe und Distanz, von Leiden und Genießen greifen die Schauspieler mit alltäglichen Situationen auf. Sie vermitteln: Nicht immer ist Einsamkeit schlecht, nicht immer tut Gemeinschaft gut. Ina von Häfen (Frau von Büchen) sagt: „Auch in Gemeinschaft kann man einsam sein, es muss schon passen. Viele Menschen meinen, wer einsam sei, mit dem stimme was nicht.“ Dem wolle sie widersprechen. „Man kann nicht immer positiv denken“, ergänzt Viktoria Krents (Frau Pflänz). Und Alexander Wladarsch (Herr Müßig) betont: „Alleinsein ist die Zeit, die ich mit mir ganz allein verbringen darf. Die Zeit, über die ich niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen muss.“
So entwickelt das Stück seine eigene Dynamik: Beim Brotbacken, Kaffeetrinken, Pflanzen und Gießen, im Restaurant oder bei der Arbeit sehnen sich die Protagonisten nach Gesellschaft und Gemeinschaft. Ihre Einsamkeit führt sie zusammen. Sie feiern überglücklich, merken dann aber, dass Gemeinschaft auch erdrücken, Alleinsein auch befreiend sein kann.
Die Regisseurin erklärt: „Wir wollen uns nicht auf eine Aussage über Einsamkeit festlegen.“ Facettenreich sollten die Zuschauer die Erfahrung machen, dass Menschen aller Generationen dieses Gefühl kennen, positiv wie negativ. Sie betont: „Wir wollen die Einsamkeit mit unserem Stück ins Rampenlicht holen.“ Das Thema sei angstbehaftet, niemand rede gern darüber. Annelie Möller möchte mit ihrer Schauspieltruppe eine Plattform bieten, ein späterer Austausch ist jedes Mal fester Bestandteil einer Aufführung.
Die Theaterpädagogin meint: „Es ist doch schön, wenn man Momente, in denen man allein ist, schätzen lernen kann. Einsamkeit ist etwas Alltägliches, was nicht tabuisiert werden sollte. Auch wer gut vernetzt ist, kennt diese Momente.“ Sie spricht auch aus eigener Erfahrung: „Ich gehe gern allein ins Kino, allein zum Tanzen, das bedeutet für mich Unabhängigkeit“, sagt sie. Dabei komme es entscheidend auf das Gefühl an: „Will ich das oder finde ich nur niemanden?“
Diese Errungenschaft vermittelt das Theaterprojekt. Und am Ende steht die Erkenntnis, die Dagmar Dethlefsen treffend formuliert: „Gemeinschaft und Einsamkeit. Beides gehört zusammen. Beides hat seinen Wert. Diese Gegensätze machen das Leben aus.“
Die Theateraufführung „Alleinsamkeiten“ kann gebucht werden. Interessierte Gemeinden oder Gruppen können sich melden bei der Regisseurin Annelie Moeller.E-Mail: annelie-moeller@t-online.de