Sexueller Missbrauch in der Kirche

Es ist etwas in Gang gekommen

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MHG-Studie über Missbrauch
Nachweis

Foto: kna/Harald Oppitz

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Schwarz auf weiß: Die MHG-Studie hat strukturelle Risikofaktoren für Missbrauch in der Kirche aufgezeigt

Vor fünf Jahren ist die MHG-Studie veröffentlicht worden. Sie hat erstmals konkrete Zahlen für den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland benannt. Was hat sich seitdem getan? Hat die Kirche aus der Studie gelernt?

3700 Betroffene sexueller Übergriffe von 1946 bis 2014 ermittelten die Forscher der MHG-Studie. 1670 Priester und Ordensleute zählten sie als Beschuldigte. Das Dunkelfeld dürfte wesentlich höher sein. Johannes Norpoth, Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Bischofskonferenz, sagt, mit der Studie sei klargeworden: „Es handelt sich um ein grundsätzliches Problem der katholischen Kirche.“ Das sieht auch der Bischofskonferenzvorsitzende Georg Bätzing so: Die Studie habe belegt, „was vorher nur intuitiv zu greifen war“, sagte er der „Zeit“. „Danach konnte keiner mehr leugnen, dass wir dringend Reformen brauchen.“

Für diese Reformen starteten die Bischöfe den Synodalen Weg. Denn die Forscher hatten Risikofaktoren im System Kirche ausgemacht: die Sexualmoral, die Überhöhung der Priester, den Umgang mit Macht. Das sollte angegangen werden. „Das fand ich wirklich positiv, weil es genau unsere Empfehlungen aufgenommen hat“, sagt der Sprecher des Forscherteams, der Psychiater Harald Dreßing. Doch die Ergebnisse des Reformdialogs haben ihn enttäuscht: „Es war eigentlich nur ein Sturm im Wasserglas.“ Er gibt aber zu, dass „etwas in Gang gekommen“ ist. So offen wie nie wird heute etwa über Homosexualität gesprochen.

Zudem vereinbarten die Bischöfe mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung Standards für die Aufarbeitung. Allerdings hatten die MHG-Forscher empfohlen, dass die Bistümer gemeinsam aufarbeiten. Stattdessen macht jedes Bistum seine eigene Studie.  

„Es haben bis heute nicht einmal alle Bistümer eine Aufarbeitungskommission. Es gibt keine gemeinsame Linie“, kritisiert Dreßing. So habe die Kirche 2018 die Chance auf einen Befreiungsschlag vertan: „Wir haben eine Reihe von Empfehlungen gemacht, von denen mit Ausnahme einer neuen Kultur der Aktenführung keine umgesetzt worden ist.“ Auch Betroffenensprecher Norpoth sieht „in allen Themenbereichen und Handlungsfeldern erheblichen Handlungsbedarf“. Etwa bei den Zahlungen zur Anerkennung des Leids: Da „schaffen es die Bischöfe nicht, ein System zu implementieren, dass durch Leistungen und Prozesse gekennzeichnet ist, die eine wirkliche Haltungsänderung deutlich machen“. Stattdessen würden Gerichte nun Nachbesserungsbedarf aufzeigen.

Kirche ist heute ein weniger gefährlicher Ort

Allerdings hat sich kaum eine andere Organisation so intensiv mit sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen befasst. Das sieht auch Dreßing so. Durch Präventionskonzepte sei die Kirche heute ein Ort, der für Kinder weniger gefährlich ist als vor Jahrzehnten, sagt er.

Dreßing wünscht sich eine stärkere Rolle des Staates bei der Aufarbeitung, etwa mit einer nationalen Kommission und einer Dunkelfeldstudie. Doch das ist nicht zu erwarten. Bätzing erzählte in der „Zeit“ von einem Gespräch mit der Innenministerkonferenz: „Als ich vorschlug, ihnen alles zu übertragen, hoben die Minister die Hände und erklärten, sie kümmern sich nur um das, was noch nicht verjährt ist. Falls der Staat noch übernehmen will: Bitte! Ich bin dabei.“

Ulrich Waschki