"Das Ethik-Eck": Dem Jugendamt melden?
Heikle Sache
Die Frage lautet diesmal: „Dem Jugendamt melden? Ich weiß über Freunde von einer Familie, in der vieles schief läuft. Sie schottet sich immer mehr ab. Ich mache mir vor allem Sorgen um das Kind. Darf ich mich ans Jugendamt wenden oder ist das ,nicht mein business‘ – geht mich das nichts an?“
Soll ich was sagen?
Es ist nicht leicht, diese Entscheidungslast zu tragen. Zwischen der Angst, jemanden falsch zu beschuldigen und der Sorge um das vermutlich gefährdete Kind liegen oft viele Wochen des Nachdenkens und schlaflose Nächte. Zwei Fragen können in der Unterscheidung hilfreich sein:
1. Was ist passiert? Zur Verfügung habe ich lediglich Erzählungen meiner Freunde – keine eigenen Erfahrungen. Habe ich persönlichen Kontakt zu der Familie? Decken sich die Erfahrungen meiner Freunde mit meinen eigenen?
2. Was kann ich tun? Angenommen, ich kenne die betroffene Familie nicht persönlich, sondern nur vermittelt über meine Freunde, dann kann ich mich persönlich nur schwer mit Beobachtungen Dritter an die Behörden wenden. Ich kann aber versuchen, meine Freunde bestmöglich zu unterstützen.
Über das Internet findet man über das Stichwort „Kindeswohlgefährdung“ recht schnell alle Kontaktnummern, die in einem solchen Fall helfen können. Zum Beispiel kann man das Jugendamt anrufen und anonymisiert alles schildern, was passiert ist. Vielleicht ist es eine Erleichterung zu wissen, dass Sie beim Jugendamt nicht direkt Namen nennen müssen. Die Fachexperten beraten professionell, welche nächsten Schritte sie aus ihrer Sicht empfehlen. Ebenso gibt es die Nummer gegen Kummer, die Telefonseelsorge, SozialarbeiterInnen in den Schulen – viele Hilfsangebote sind sogar 24 Stunden erreichbar. Wenn die Erfahrungen ihrer Freunde für eine offizielle Gefährdungseinschätzung ausreichen, haben Sie professionelle Hilfe an ihrer Seite. Und auch wenn das Jugendamt ihre Situation als „nicht ausreichend“ einstufen sollte, kann ein solches Telefonat Sicherheit geben. Es kann sein, dass Ihnen das Thema und die Familie noch nachgeht. Es ist gut, wenn Sie das nicht kaltlässt. Dabei sind Sie in guter Gesellschaft: Rund 160 000 Menschen haben laut dem Statistischen Bundesamt in Deutschland 2018 eine Angabe gemacht, die eine Gefährdungseinschätzung zur Folge hatte. Ungefähr ein Drittel davon wurde als akut oder latent gefährdet eingestuft, ein weiteres Drittel wurde als unterstützungsbedürftig festgestellt – beim letzten Drittel wurde keine Gefährdung oder kein Hilfebedarf festgestellt.
Ziemlich heikel
Ziemlich heikel – ein Eindruck, ein Verdacht, eine Vermutung… Und es geht um die Ecke, über Freunde, die ihrerseits beobachten… Und was heißt: Vieles läuft schief?
In jeder Familie läuft es mal schief. Perfekte Familien gibt es nicht.
Das Schwierige ist, dass es kein Wissen gibt; die Realität der Familie und des Kindes ist nicht verlässlich einzuschätzen. Andererseits gibt es etwas, das irritiert, vielleicht sehr zu recht. Und es gibt die bekannte Erschütterung, wenn ein Kind vernachlässigt oder misshandelt wurde, und keiner hat richtig hingeschaut.
Also – dünnes Eis.
Ein Balancieren zwischen zwei Polen: Wäre es berechtigte, sogar notwendige Sorge oder ein Einmischen, ein Übergriff in eine Familie, die vielleicht nur nicht den üblichen Spielregeln entspricht? Anders leben heißt ja nicht, dass es den Kindern nicht ausreichend gut gehen könnte.
Die Nachfrage der Behörde wird zudem oft zwiespältig erlebt, neben möglicher Hilfe ängstigt und beschämt sie auch.
Andererseits gibt es gute Familienhilfen; schade, wenn so etwas nicht bekannt oder genutzt wird, wenn mal jemand Unterstützung braucht.
Es ehrt, die Partei des Kindes zu nehmen, sensibel zu sein gegenüber eventuellen Übergriffen.
Aber – was stört denn wirklich?
Welche Vorstellungen und Phantasien gibt es? Sind die im eigenen Kopf oder doch angeregt und belegt durch Beobachtungen? Oder sind es Vorstellungen von guter Familie, die man selbst hat?
Es lohnt zu versuchen, das ein bisschen selbstkritisch zu sortieren. Was und wie viel bleibt dann übrig?
Aber wenn die Unsicherheit bleibt – was tun?
Vielleicht gibt es etwas zwischen dem Entweder – Oder. Erst mal ein paar Schritte, bevor das offizielle Amt ins Spiel kommt. Gibt es jemand, der vertrauensvollen Kontakt zur Familie hat und das Gespräch suchen könnte? Den man fragen und darum bitten könnte? Hat das Kind noch andere Kontakte und Vertrauenspersonen, die sich kümmern und aufmerksam sind? Und falls die Familie zur Nachbarschaft, zur Pfarrei oder zum Verein gehört, gäbe es Wege, freundlich Kind oder Eltern in Kontakte einzubeziehen und damit eventuelle Unterstützung anzubieten?
Eine andere Möglichkeit wäre, sich an die nächste Erziehungsberatungsstelle zu wenden. In den Teams dort gibt es verlässlich jemand, der in Fragen des Kindeswohls besonders geschult ist. Ein Gespräch mit einer solchen Fachkraft könnte etwas klären. Und helfen, die eigenen Beobachtungen und Bedenken einzuordnen.
So findet sich hoffentlich ein Weg, zur eigenen Entlastung und zum Wohl des Kindes.
Gut und gerecht
Sich zu sorgen, ist ein wichtiger ethischer Impuls. Und auch die Frage „Darf ich oder darf ich nicht?“ ist zutiefst ethisch. Sie ruft nach einer Antwort: Ja oder Nein. Doch aus ethischer Sicht gilt ein wichtiger Grundsatz: Zuerst muss genau bestimmt werden, worum es eigentlich geht. Nur dann lässt sich auch der beste Weg finden, um ein Problem zu lösen. Ethisch denken heißt, aus dem Ja-Nein-, aus dem Schwarz-Weiß-Schema herauszukommen.
Was bedeutet das für den geschilderten Fall? Zunächst einmal: Bisher ist die Situation der Familie und des Kindes nur vom Hörensagen bekannt. Hier ist zu fragen: Stimmt es überhaupt, dass da viel schief läuft? Und ist das Kind tatsächlich gefährdet? Für das geschilderte Verhalten kann es ja viele Gründe geben. Menschen ziehen sich auch zurück, weil sie ihre Arbeit verlieren, einen Todesfall verarbeiten müssen, Burn-out oder Depression haben.
Aus der Beschreibung lese ich, dass Sie die Familie nicht so gut kennen. Da ist es schwer, verlässlich Auskunft zu bekommen. In einem solchen Fall würde ich fragen, wer näher dran steht: die Lehrerin, Freunde, Nachbarn. Und mit ihnen das Gespräch suchen. Die kann ich fragen, ob sie sich auch um Familie und Kind Sorgen machen. So lässt sich gemeinsam beraten, was die nächsten Schritte sind. Ich denke, es ist zunächst Aufgabe der Näherstehenden, auf die Familie zuzugehen. Das Jugendamt kann dann ein weiterer Schritt sein. Wenn sich die Sorgen um Familie und Kind nicht ausräumen lassen. Ob ich oder andere das Amt einschalten, ist dann zweitrangig.
In der Ethik geht es um die Frage nach dem Guten und Gerechten. Deshalb ist all das „mein Business“, wo es nicht gut und nicht gerecht zugeht. Ethisch denken geht aber weit über die Antwort auf die Frage „Darf ich oder darf ich nicht?“ hinaus. Ich muss vielmehr klären, worin „mein Geschäft“ besteht: Ich kann andere auf eine Situation aufmerksam machen, gemeinsam Lösungen finden, zu Handlungen motivieren, das Gespräch suchen – und ich kann mich an das Jugendamt wenden. Ethik heißt: Handlungsoptionen gewinnen und die beste auswählen.