Nationalsozialismus

Hinter der katholischen Milieu-Mauer

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Eine Fotografie in schwarz weiß zeigt ein Löschfahrzeug vor einer brennenden Synagoge
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Foto: KNA-Bild

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Am 10. November 1938 brannte die Synagoge von Hanau.

Wie verhielten sich Katholiken in der Region während des Nationalsozialismus? Leisteten sie Widerstand oder waren sie Mitläufer? 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ergibt sich ein differenziertes Bild – und keine eindeutige Antwort.

Der 16. März 1941 wird ein schicksalhafter Tag für eine Gruppe Jugendlicher aus dem Bistum Limburg. Allen gemeinsam ist, dass sie in der katholischen Jugend und in der Jungschar aktiv waren, bis beide Gruppen 1937 von der NSDAP verboten wurden. Nach wie vor besuchen sie die noch erlaubten Pfarrstunden und Gruppenabende. Das Ziel ihres Fahrradausflugs an diesem Sonntag: ein ehemaliges bischöfliches Jugendhaus in Kirchenähr im Westerwald. Es war 1939 von Nationalsozialisten beschlagnahmt worden und wurde danach als Schulungsstätte der Hitler-Jugend benutzt. Die Jungen dringen in das Haus ein, zeichnen das christliche Pax-Zeichen auf Tische und Stühle, reißen die Hakenkreuzfahne herunter und schreiben an eine Wand „Im Kreuz ist Heil“. Ein Protest gegen das Nazi-Regime, das ihr Leben immer weiter einschränkt. „Wenn man uns auch die Heime abnimmt und verbietet, wir machen weiter“, wird der 17-jährige Josef Leber aus Wiesbaden noch sagen, der dabei ist. Bereits fünf Tage später ist ihnen die Gestapo auf den Fersen. Bis Anfang April werden sie verhört. Dann folgt der Prozess gegen drei der Jungen aus Frickhofen, einen aus Limburg und einen aus Wiesbaden. Sie werden als Rädelsführer der Gruppe beschuldigt. Fast alle fünf müssen drei bis fünf Wochen in Haft, Josef Leber trifft es härter: Acht Monate wird er im Gefängnis Preungsheim inhaftiert, wo er fast verhungert.

Es gibt sie, die Geschichten des Widerstands. Dennoch ruht auch nach 80 Jahren immer noch nicht die Frage: Warum  gab es ihn so wenig? Wie konnte es so weit kommen, dass die Menschen in Deutschland diesen brutalen Krieg begannen und sich in einen grotesken Rassenwahn hineinsteigerten? Und, was Christinnen und Christen vielleicht am meisten umtreibt: Wie konnten Menschen, die zur katholischen Kirche mit ihren Werten wie Nächstenliebe, Sozialcourage und Barmherzigkeit gehörten, bei so etwas mitmachen? Auch wenn in der Nazi-Zeit hunderte evangelische und katholische Christen für ihre Zivilcourage sterben mussten: Wieso konnten Christen den Nazi-Terror nicht von Anfang an im Keim ersticken? Wie war das Leben der Katholiken in der Region?

Hunderte kamen zum Ketteler-Gedenken

„Katholische Milieus hatten eine gewisse Resistenzwirkung gegen die Nazi-Propaganda“, erklärt Michael Kißener, Professor für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. In den mehrheitlich katholisch geprägten Gegenden hat sich seit der Zeit des Kulturkampfs Ende des 19. Jahrhunderts ein festes katholisches Milieu entwickelt. Sonntags ging man in die Kirche, war Mitglied im Kolpingverein oder im Mütterverein und die Jugend traf sich in der Jungschar. Der Priester war eine anerkannte Respektsperson. Politisch organisiert war man in der Zentrumspartei. In dieses soziale Gefüge einzudringen, war für die NSDAP nachweisbar schwer.

In der Region gibt es viele Beispiele für Katholiken, die sich widersetzten. 1935 fuhren hunderte Gläubige mit Sonderzügen nach Mainz, um demonstrativ des 57. Todestags von Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler zu gedenken. Bischof Ketteler (1811–1877) gilt als Mitbegründer der katholischen Soziallehre und kann als Initiator der katholischen Arbeitervereine gesehen werden. Der Mainzer Bischof Albert Stohr verlas 1937 die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“ gegen den Nationalsozialismus und seine Folgen. Er übernahm auch die Verantwortung für deren Verteilung. Das ging nur inoffiziell und war für seine Helfer nicht ungefährlich. Der Fuldaer Bischof Johann Baptist Diez lud Mitglieder der Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis in das Bischofshaus ein. Wichtig bei der Frage, wie sich die Katholiken im Nationalsozialismus positionierten, war auch der Papst als Kirchenoberhaupt. Papst Pius XI. schloss mit den Nazis einen Staatskirchenvertrag, das Reichskonkordat. Es sollte den Fortgang katholischen Lebens ohne Einschränkungen sichern. Aber vor allem die Rolle des folgenden Papstes Pius XII. – von 1939 bis zu seinem Tod 1958 im Amt – ist in der geschichtlichen Forschung weiterhin umstritten.

Antijudaismus als Nährboden

„In der katholischen Lehre, in der weltumspannenden Kirche stießen übersteigerter Nationalismusund Rassismus auf wenig Verständnis“, erklärt Historiker Kißener. Dennoch war die Auffassung verbreitet, dass die Juden den Gottessohn ermordet haben. Esgab einen gewissen Antijudaismus. Inwiefern sichdieser in der Zeit des Nationalsozialismus mit dem rassistischen Antisemitismus der Nazis verband,ist umstritten. Während der Rektor des Bischöflichen Gymnasialkonvikts in Mainz, Robert Rainfurth,1935 die Sportanlagen seines Hauses jüdischen Schülern zur Verfügung stellte, notierte der Mainzer Priester Adam Gottron nach der Reichspogromnacht 1938 in sein Tagebuch: Die NS-Rassenpolitik führe zur Vertreibung und Ghettoisierung der Juden. Darüber sei er „nicht böse.“

Es gibt mehrere Erklärungen, wie das Milieu für die Nazi-Ideologie durchlässig wurde. „1933 begann eine Zeit der Einschüchterung. Die Leute waren von der Brachialität überrascht, mit der die Gleichschaltung vorangetrieben wurde“,  erklärt der Historiker Christian Müller, der sich insbesondere mit Rheinhessen zur Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt hat. Der katholische Volksschullehrer Rudolf Seibert aus dem kleinen Ort Sörgenloch wurde bereits 1933 von Nationalsozialisten totgeprügelt. Vereinsvermögen wurde beschlagnahmt. In Ingelheim wird ein Kaplan im Hetzblatt „Der Stürmer“ diffamiert, weil er sich mit einem jüdischen Lehrer auf dem Nachhauseweg unterhielt und dabei fotografiert wurde. „Die Leute sahen, was mit denen passiert, die den Mund aufmachen. Und je häufiger das geschah, desto schwieriger war es, den Widerstand aufrechtzuerhalten“, erklärt Müller. Dazu kam, dass „Katholiken nicht nur Katholiken waren“, wie Kißener erklärt. Im Berufs- und Alltagsleben mussten auch sie ihren Platz in der NS-Volksgemeinschaft definieren und sich mit den Verhältnissen arrangieren, mal größere, mal kleinere Zugeständnisse machen. „Es herrschte eine Vertrauenskrise. Viele erhofften sich in der chaotischen Zeit, dass radikale Kräfte Lösungen für die Probleme, wie vor allem für die Arbeitslosigkeit, finden könnten“, erklärt Historiker Müller.

Wie geschickt es die Nationalsozialisten anstellten, sich im kulturellen Bereich gesellschaftlich aufzudrängen und zu etablieren, lässt sich am Beispiel der Erntedankfeste aufzeigen. „Bei den Katholiken gab es bis in die 1930er-Jahre keine zentralen Veranstaltungen zum Erntedank. Jede Gemeinde hatte andere Traditionen“, sagt Christian Müller. Nach dem Reichskonkordat gaben die Nationalsozialisten auch der katholischen Kirche Raum zur Integration in die staatlich organisierten Erntedankfeiern. Spätestens ab 1935 wandelte sich das Fest: „Die Nationalsozialisten instrumentalisierten die Arbeit der Bauern für ihre Ideologie, christliche Inhalte traten da in den Hintergrund“, so der Historiker. „Bei den Festzügen liefen vorn die Verbände der Partei, hinten erst die Gemeinde und, sofern sie sich beteiligen konnten, kirchliche Vereine.“ Die von den Nationalsozialisten propagierte Volksgemeinschaft sollte gestärkt werden; religiöse Haltungen wollte man schwächen.

Christkönigsfest verteidigt

Eine schwarzweiß Fotografie von einem Mann mit Brille, der vor einer Gruppe an Menschen steht
Jesuit Alfred Delp, Mitglied der Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis, im Januar 1945 vor Gericht. Wenig später wurde er gehenkt. Die Gruppe wurde von Bischof Dietz aus Fulda unterstützt. Foto: KNA-Archiv

Auf Hitler, nicht auf Jesus, sollte sich nach dem Willen der Herrschenden alles konzentrieren. So wurde das Christkönigsfest zum zentralen Streitpunkt und wurde von den Katholiken vielerorts vehement verteidigt – nicht selten mit schwerwiegenden Folgen. Diese trafen auch Pfarrer Emil Hurm, der die Gemeinde im westerwäldischen Fussingen leitete. „Wenn die politischen Herrscher dieser Tage schon längst im Grab vermodert sind, wird Christus immernoch König sein!", soll er an Christkönig von der Kanzel gerufen haben. Hurm wurde angezeigt, ins KZ Dachau deportiert und kam erst zum Kriegsende wieder frei.

Mit dem Reichskonkordat hatten sich die Katholiken Sicherheit erhofft. Doch die NSDAP hielt sich nicht an die Abmachung. Die Katholiken versuchten, sich so weit wie nötig anzupassen und ihre Strukturen so gut wie möglich zu bewahren. In den 1990er Jahren prägten Forscher für dieses Verhalten den Begriff des Milieu-Egoismus. Diesen Begriff findet auch Anja Listmann wichtig. Sie ist Beauftragte für jüdisches Leben der Stadt Fulda. „In Fulda, wie auch in anderen deutschen Städten, lässt sich ein ähnlicher Milieu-Egoismus beobachten. Während es eindringliche Predigten gegen die Euthanasie gab, blieb das Schweigen zur Verfolgung der Juden und zur Shoah erschreckend laut. Organisierter Widerstand war nicht vorhanden und war auf Einzelaktionen beschränkt“, sagt sie. Als Beispiele nennt sie die Lieferung von Lebensmitteln oder die Aufbewahrung von Eigentum bis zur Rückkehr. Hilfe erhielten vor allem befreundete Juden. „Diese individuellen Akte des Mutes sind in Wiedergutmachungsakten dokumentiert, zeugen jedoch von einer eher sporadischen Hilfeleistung. Es gab keine allgemeine Solidarität mit der gesamten jüdischen Gemeinschaft“, erklärt sie.

Am 8. Mai 1945 ist der Zweite Weltkrieg zu Ende. Allmählich erblüht das katholische Leben in den Bistümern wieder, nach den Gräueln des Krieges finden viele Trost und Halt in der kirchlichen Gemeinschaft. Andere müssen sich bis zu ihrem Lebensende fragen, ob sie als Katholiken nicht mehr hätten tun können, um die totalitäre Diktatur zu verhindern.

Zu jenen, die ihren Glauben nach dem Krieg nicht wieder frei ausüben können, gehört Josef Leber, der 17-Jährige aus Wiesbaden: 1941 wurde er nach seiner Haft sofort eingezogen und starb im März 1943 mit19 Jahren an der Front in Russland. Das Leben eines jungen Menschen, der sich für seinen Glauben eingesetzt hat, ausgelöscht und ohne Zukunft. Das Jugendhaus Karlsheim, in das Josef Leber 1941 mit seinen Freunden eindrang, ist heute eine Jugendbegegnungsstätte, ein Tagungsraum wurde nach ihm benannt. Sein Schicksal fordert uns heraus, uns als Katholikinnen und Katholiken nicht in unserem Milieu einzuigeln. Immer dann, wenn es gilt, dem Christentum ein Gesicht zu geben.

Theresa Breinlich und Elisabeth Friedgen

Vom 22. bis 24. Mai findet im Erbacher Hof in Mainz eine Studierendenkonferenz statt mit dem Titel „Der 20. Juli 1944: Junge Perspektiven auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus“.