Anstoß 07/23

Ich sehe was, was du nicht siehst

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Ein Spiel aus meiner Kindheit ist bis heute fester Bestandteil meines Alltags: „Ich sehe was, was du nicht siehst.“


Ein Spiel aus meiner Kindheit ist bis heute fester Bestandteil meines Alltags: „Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Vorzugsweise spiele ich es mit meinen Kindern – wenn das Warten lang wird, im Auto oder beim Kinderarzt. Groß ist die Freude des Rätselstellers, wenn andere nicht herausfinden, was genau gemeint ist. Errät jemand die Lösung, ist der Jubel ebenfalls groß. Es gilt, genau hinzuschauen und sich neue Blickwinkel anzueignen.

Ich behaupte, der Name des Spiels taugt als Lebensmotto für uns Christen: Das zu sehen, was anderen verborgen bleibt. Dazu fordert uns unser Glaube heraus – gerade im Kontakt zu unseren Mitmenschen. Sich nicht zu sehr von dem beeindrucken zu lassen, das wir auf den ersten Blick wahrnehmen.

Wie herausfordernd der Weg dorthin sein kann, merke ich als Polizeiseelsorgerin. Ich bin erst seit ein paar Monaten dabei und lerne viele neue Menschen kennen. „Ich sehe was, was du nicht siehst“ – das gilt auch hier. Mein Anspruch ist es, das zu sehen, was andere – oder ich selbst – bisher nicht gesehen haben. Es gibt eine ganze Menge Neues zu beobachten. Ich sehe die neuen Kollegen in ihren Uniformen. Ich erlebe die klare Aufforderung bei einer Verkehrskontrolle, den Führerschein und die Fahrzeugpapiere zu zeigen. Selbst als Seelsorgerin wirken diese Eindrücke und engen mein Blickfeld ein.

Es fiel mir neulich auf: Ich begleitete Kollegen bei ihrer Arbeit. Einen von ihnen empfand ich als besonders groß, kantig und wortkarg. Als ich auf den Rücksitz des Dienstwagens kletterte, dachte ich: „Oje, wie soll ich bloß mit dem ins Gespräch kommen?“ Auf einmal drehte er sich zu mir um und fragte: „Ist dir auch warm genug dahinten?“ Überrascht bejahte ich und schmunzelte in mich hinein. Fast wäre mir meine beengte Sicht auf die Füße gefallen.

Der Kollege hatte mich durch seine fürsorgliche Nachfrage daran erinnert, worauf es ankommt: genau hinzusehen, die Perspektive zu wechseln – als Seelsorgerin, als Christin und nicht nur im Spiel mit meinen Kindern.

Christina Innemann
Katholische Polizeiseelsorgerin in Mecklenburg-Vorpommern