Beeindruckendes Stück am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg

Kann Theater Beichte sein?

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„Société Anonyme“ im Malersaal des Schauspielhaus
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Foto: Thomas Aurin/Deutsches Schauspielhaus Hamburg

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So schaut im Malersaal der Raum für das Publikum aus, bevor das Licht erlischt und die Zuschauer vollends zu um so aufmerksameren Zuhörern werden.

Am Deutschen Schauspielhaus ist das Stück „Société Anonyme“ uraufgeführt worden. Die Inszenierung lehnt sich an die Situation im Beichtstuhl an: Der Raum ist völlig dunkel. Zu hören ist auch die Stimme eines Geistlichen.

Totale Finsternis. Nicht einmal der kleinste Lichtpunkt ist auszumachen. Ob man die Augen aufhat oder sie schließt: Man blickt ins Dunkel. Dann ertönt über die rund 60 Köpfe der Besucher im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses hinweg die Stimme einer Anwältin. Sie berichtet von ihrem Leiden an Schizophrenie, davon, wie es ist, ungewollt Stimmen zu hören, die es in der äußeren Welt gar nicht gibt, die aber das Denken ungemein stören. Und davon, dass sie das Leiden vor ihrer Umgebung verheimlicht hat, weil sie sonst ihre Stelle verloren und wohl auch keine neue gefunden hätte. Und schließlich davon, wie sie von der Schizophrenie loskam.

Es ist eine von insgesamt neun Geschichten nicht namentlich genannter Protagonisten aus oder über die dunkle Seite des Lebens und der Gesellschaft. „Société Anonyme“ heißt das Stück denn auch, das der Regisseur Stefan Kaegi konzipierte und das am 11. November im Malersaal uraufgeführt wurde. Kaegi gehört zum Kollektiv „Rimini Protokoll“, das sich dem Dokumentartheater verschrieben hat. Diese Form basiert nicht auf der Darbietung einer fiktiven Stückgrundlage, sondern auf tatsächlichen Ereignissen und Äußerungen.

In „Société Anonyme“ sind es Beichten oder zumindest Bekenntnisse, die die Personen vor dem Licht der Öffentlichkeit verbergen, die sie gemeinhin für sich behalten – aus Angst vor Strafe, Ächtung, Jobverlust, aber auch aus Scham oder weil die Qual durch erlittenes traumatisches Leid zu belastend ist. Auch eine Frau, die – außerhalb der Kirche – Opfer sexuellen Missbrauchs wurde, ist dabei, ferner unter anderem ein Geflüchteter, der illegal im Hamburger Hafen arbeitet, und ein Steuerberater, der mit legalen Tricks Vermögenden und Firmen zu monetären Vorteilen verhilft, die dem normalen Steuerzahler verwehrt sind.

Und auch ein Beichtvater spricht aus dem Off. Er bleibt ebenfalls anonym und das soll auf Wunsch des Schauspielhauses auch so bleiben, um den Charakter der Darbietung zu wahren. Nur so viel sei verraten: Es ist ein Geistlicher aus dem Erzbistum. Er kommt in dem Stück erstmals nach dem Bekenntnis eines homosexuellen Musikers zu Wort, der anonymen Sex in einem Dark­room sucht, dessen Ausgang nach seinen Worten ausgerecht gegenüber dem St. Marien-Dom liegt. „Ich bin katholisch aufgewachsen und hätte dort viel zu beichten“, meint er. Einige im Publikum schmunzeln hörbar.

Die Situation bei der Aufführung ist aber der Beichtsituation vergleichbar, auch wenn es im Beichtstuhl nicht völlig dunkel ist. So fordert der Beichtvater die Anwesenden auch auf, sich hinzuknien. Darüber wird schon nicht mehr geschmunzelt. Stück und Publikum nehmen die Beichtsituation ernst. 
Sünde habe etwas damit zu tun, dass sich jemand absondere, zum Sonderling werde, erläutert der Geistliche im Begleitheft. Die Beichte ermögliche es dem Sonderling, dem Sünder, „wieder zur Gemeinschaft dazuzugehören“.


„Durch die Sünde sondert man sich ab“


Hier wie dort hat die Dunkelheit einen elementaren Sinn. Man soll sich nicht auf das verlassen, was bei Licht möglicherweise vorgegaukelt wird. Die visuelle Oberfläche kann zu vorschnellen Urteilen führen. Gesten können auch täuschen. Umgekehrt können gewisse Mikromimiken gar nicht kontrolliert werden und geben Aufschluss über ein Urteil, das jemand, in diesem Fall eher der Zuhörer oder Beichtvater, fällt. Etwa, wenn der Mundwinkel zuckt oder die Augenbrauen einen Millimeter angehoben werden. Solche Bewegungen werden beispielsweise als Verachtung oder als Moralisieren wahrgenommen. Diese Informationen fallen bei der Beichte und auch in der Aufführung von „Société Anonyme“ weg. Wird nur eine Stimme gehört, erfolgen solche Reflexe wesentlich weniger. Das kann schlussendlich dazu führen, dass durch die Dunkelheit eine intensivere Empathie aufgebracht wird. Die Zuhörer wenden sich den Protagonisten des Stückes eingehender zu. 

Unterstützt wird dies durch Klänge der blinden Musikerin Gül Pridat. Für Abwechslung und Empathie sorgen auch Überraschungen, die die Anwesenden unter ihren Stühlen ertasten – so etwa eine marokkanische Süßigkeit, von der der Hafenarbeiter schwärmt.

Bei aller Ähnlichkeit zur Beichtsituation: Es sind im strengen Sinne keine Beichten und es sind auch nicht unbedingt Sünden, zu denen sich einige der Protagonisten von „Société Anonyme“ bekennen. Dem Missbrauchsopfer oder auch der schizophrenen Anwältin könnte man allenfalls vorhalten, nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. Dafür haben sie aber gute Gründe. Anders ist dies bei dem Steuerberater. Aber wie in der Beichte reden sie sich etwas von der Seele, das sie sonst in sich hineinfressen. Sie bringen ihr Leben zur Sprache, wie es zum Menschsein gehört. 

„Société Anonyme“, Malersaal im Schauspielhaus, empfohlen ab 18 Jahren, Karten unter www.schauspielhaus.de
 

Matthias Schatz