Peter Beer schützt Kinder vor Missbrauch in der Kirche
Leugnen kann das niemand mehr

Foto: kna/Francesco Pistilli
Peter Beer arbeitet am Institut für Anthropologie der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom für den weltweiten Kinderschutz.
Peter Beer war erst einige Wochen im Amt, da traf ihn der Skandal um sexuellen Missbrauch durch Kleriker und dessen Vertuschung mit voller Wucht. Beer hatte Anfang 2010 seine Aufgabe als Generalvikar des Erzbistums München und Freising angetreten. In dem Frühjahr erfasste mit den Enthüllungen am Berliner Canisiuskolleg der Missbrauchsskandal auch die deutsche Kirche.
Schon in den ersten Monaten war Beer in einen handfesten Streit mit den Benediktinern des traditionsreichen Klosters Ettal um den richtigen Weg der Aufarbeitung verwickelt. Außerdem gab es Vorwürfe gegen den damaligen Papst Benedikt, dass dieser als Erzbischof von München und Freising einen Missbrauchstäter versetzt und neue Taten möglich gemacht habe. Einer von Beers Vorgängern im Amt des Generalvikars übernahm damals die Verantwortung.
Beer war gerade Mitte Vierzig. Nach einem Doktortitel in Theologie und einem in Pädagogik war er mit 36 Jahren zum Priester geweiht worden. „Ich habe viel in der Kinder- und Jugendarbeit gearbeitet und dachte, Pädagogik und Priesteramt passen gut zusammen.“ Doch gerade diese Kombination war es, die sich nun an vielen Stellen der Kirche als toxisch herausstellte. Beer, der nach nur acht Jahren als Priester Generalvikar wurde, war in seinen Grundfesten erschüttert. „Ich musste mich mit Schilderungen von Missbrauchstaten auseinandersetzen und konnte mir nicht vorstellen, dass Menschen so etwas mit Kindern machen“, sagt er heute.
Geistliche Heimat ging verloren
In der Jesaja-Lesung wird ein ähnliches Gefühl angedeutet: Die „Verlassene“ nenne man Jerusalem, das Land „Verwüstung“, heißt es in poetischer Sprache. „Viele Menschen haben durch den Missbrauchsskandal ihre geistliche Heimat verloren“, sagt Beer. Auch er selbst war in einer existenziellen Krise: „Ich bin Priester in und Vertreter von einer Organisation geworden, in deren Reihen solche Dinge passieren.“ Beer zweifelte: „Ich habe mich gefragt, ob meine Entscheidung für den Priesterberuf richtig war. Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder geht man weg oder man setzt sich für Änderungen ein.“ Beer entschied sich für Letzteres.
„Ich werde nicht schweigen, bis hervorbricht wie ein helles Licht seine Gerechtigkeit.“ Dieser Vers spricht auch Beer an. Er sieht darin für sich und „für alle, die an der Sendung der Kirche mitwirken“, einen wichtigen Impuls. Zehn Jahre blieb er Generalvikar, gab ein Gutachten zur Aufarbeitung des Missbrauchs in Auftrag, versuchte, Strukturen zu verändern. Im Gespräch über die Bibelstelle will er nicht viel über das Ende dieser Zeit sprechen. Er sagt nur: „Jeder hat seine Grenzen. Ich auch. Irgendwann muss man sagen, das muss ein Neuer machen.“ In anderen Interviews wurde er deutlicher. „Ein Kardinal sagte zu mir, ich sei ein schlechter Priester. Jemand aus dem Domkapitel nannte mich einen Verräter“, sagte Beer der „Zeit“. „Ich habe alles versucht gegen die Täterschützer. Aber ich konnte den Apparat letztlich kaum ändern.“
Beer gab sein Amt in München auf und setzt sich seitdem ganz für den Kinderschutz ein. Er ging nach Rom zum Zen-trum für Kinderschutz, wie es damals hieß. Der bekannte deutsche Jesuit und Professor Hans Zollner leitet die Einrichtung an der päpstlichen Universität Gregoriana, die heute Institut für Anthropologie heißt und Menschen aus aller Welt aus- und fortbildet, damit diese in ihren Orden oder Bistümern Kinderschutz und Safeguarding – das Schaffen von sicheren Räumen in Kirche und Welt – voranbringen.
Beer versteht die Jesaja-Stelle nicht als wetternde Wutrede. „Ich kann nicht die ganze Zeit mit dem Flammenschwert durch die Gegend ziehen“, sagt er. Dauernd fordernd und anklagend aufzutreten, bringe nur Verhärtungen, Abwehr und die Gefahr, sich selbst ins Unrecht zu setzen. Für Beer sind die Worte des Jesaja eine „motivierende Vision“. Sie seien nach dem babylonischen Exil des Volkes Israel geschrieben worden und sollten die Hoffnung auf bessere Zeiten wachhalten.
Es hat sich viel verändert
Veränderungen brauchten Zeit, sagt Beer. Auch wegen der unterschiedlichen Kulturen der Weltkirche. Die bemerkt Beer schon an recht banalen Dingen wie der Art zu lernen: Während Studierende aus Europa eher kritisch diskutierend den Lernstoff erfassen wollten, würden viele Studierende aus Asien mehr die Aussagen der Lehrenden pauken und wiederholen. Entsprechend unterschiedlich sind auch das Sprechen über und der Umgang mit sexuellem Missbrauch. Doch leugnen könne heute niemand mehr diese Verbrechen. Deshalb sagt Beer: „In den letzten 15 Jahren hat sich sehr viel verändert.“
Dass zum Abschluss der Synode im Herbst ein Missbrauchsbetroffener im Petersdom dem Papst und anderen Kirchenführern seine Geschichte erzählen konnte, wäre früher undenkbar gewesen. „Es ist ein Prozess, der sich langsam, aber beständig entwickelt“, sagt Beer.
Doch der konkrete Einsatz für Kinder und Jugendliche ist nur das eine. Für Beer sind damit tiefere Fragen verbunden. „Die Kirche soll die frohe Botschaft verbreiten, für Schwache da sein. Wie können dann solche Taten passieren?“, sagt er. In der Liturgie feiert die Kirche die Wandlung – nicht nur von Brot und Wein in Leib und Blut des Gekreuzigten, sondern auch die Wandlung derer, die an der Feier teilnehmen. „Wenn ich dann das Gegenteil tue oder zulasse, kann ja etwas nicht stimmen mit meinem persönlichen Glauben.“
Und das gilt nicht nur für Missbrauch, sondern überall dort, wo Reden, Bekennen und Handeln auseinandergehen. Ein solcher Glaube ist – analog zur Lesung – verlassen und verwüstet. So richtet sich die Vision des Jesaja an jede Christin und jeden Christen. „Ich will um Jerusalems willen nicht schweigen, auch mir selbst gegenüber nicht“, sagt Beer.
Er rät, sich immer wieder selbst die Frage zu stellen: „Worum ging es denn, als wir angefangen haben, als Christen zu leben?“ Dann kann die Vision des Jesaja Wirklichkeit werden und Gerechtigkeit wie ein helles Licht aufstrahlen, in mir, um mich herum, für mich und für andere.