Pflegepraktikum im Ausland

"Manchmal fehlt einfach Liebe"

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Jennifer Yeboah im Caritas-Haus St. Franziskus Bremen
Nachweis

Foto: Anja Sabel

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Ihre praktische Ausbildung macht Jennifer Yeboah im Bremer Caritas-Haus St. Franziskus. Foto: Anja Sabel

Das deutsche Pflegesystem braucht Fachkräfte wie Jennifer Yeboah. Die 49 Jahre alte Bremerin, Mutter von drei Kindern, ist noch in der Ausbildung und hat vor kurzem die Chance genutzt, Berufserfahrungen auch im europäischen Ausland zu sammeln. Dafür wurde sie im Rathaus ausgezeichnet. Wichtiger als die Ehrung ist ihr selbst: Empathie für pflegebedürftige Menschen.

Ihr Pflegealltag im Bremer Caritas-Haus St. Franziskus ist eng getaktet. Dennoch findet Jennifer Yeboah: Ein Lied oder ein paar Tanzschritte im Bad bei der morgendlichen Körperpflege – das muss sein, das sorgt für gute Laune. „Musik macht alte Menschen so glücklich“, sagt sie und lächelt eine große Lücke zwischen ihren Schneidezähnen frei. Manchmal reicht aber auch schon ein freundliches „Hallo, wie geht’s Ihnen heute?“. Die Bewohnerinnen und Bewohner starten dann gleich viel entspannter in den Tag. 

Niemand sollte Angst haben müssen, seine Wünsche zu äußern. Das ist Jennifer Yeboah besonders wichtig. Sie ist eine aufmerksame und empathische Frau, die zum Beispiel auch nachts ohne Murren frische Wassergläser ans Bett bringt. Einmal, erzählt sie, habe sich eine Frau kaum getraut, deswegen den Klingelknopf zu drücken. Die Pflegefachfrau schüttelt den Kopf: „Ich schaue doch nicht auf die Uhr. Wer trinken möchte, hat jedes Recht auf ein Glas Wasser.“

Jennifer Yeboah, 49 Jahre alt, ist im dritten Ausbildungsjahr und zusammen mit einer Kollegin die älteste in ihrer Klasse. Das ist für sie kein Problem. Sie versteht sich gut mit den Jüngeren, die ihr gern bei den Hausaufgaben helfen, wenn sie mal wieder an der deutschen Grammatik verzweifelt. Zuvor konnte sie schon Praxiserfahrungen als Pflegehelferin sammeln. Aufgewachsen in Ghana, lebt sie seit 28 Jahren in Deutschland. Ihre drei Kinder sind hier geboren. 

Deutsch sei eben eine schwere Sprache, sagt sie und seufzt. Deshalb habe sie nicht in ihrem erlernten Beruf als Fluglotsin arbeiten können. Die Liebe zur Pflege entdeckte sie eher zufällig. Eigentlich dachte sie, das sei gar nicht ihr Ding. Doch dann begann sie, sich um ältere Nachbarn zu kümmern und merkte: „Das liegt mir ja doch!“ 

In Ghana, Yeboahs Geburtsland, gibt es keine Altenheime. Die Großeltern bleiben in den Familien. Sie ziehen die Enkel auf, sind moralische Vorbilder und geben ihre Weisheit beim Erzählen mythischer Geschichten weiter. So jedenfalls ist es Tradition. Die Realität sieht oft anders aus. Heute leiden auch in Ghana viele alte Menschen unter Einsamkeit, weil Kinder und Enkel in die Städte ziehen. Für die Alten gibt es kaum staatliche Hilfen. Die Kirchen sind mitunter die einzigen helfenden Institutionen. 

Die Arbeit von Pflegekräften wurde schon oft in Studien verglichen. Ein „goldenes“ Pflegeland hat aber noch keine dieser Studien gefunden. Weil gute Arbeit vor allem von der konkreten Arbeitssituation abhängt: Wie ist der Arbeitgeber? Ist die Arbeit im Team gut? Auch wenn das Problem des Pflegenotstands die meisten Länder eint, gibt es verschiedene Ansätze, die Situation zu verbessern. Und da kann der eine oder andere Blick über die Landesgrenzen nicht schaden – dachte sich auch Jennifer Yeboah. 

Sie nutzte die Chance, über das europäische Förderprogramm „Erasmus+“ einen Monat lang in den Pflegealltag Irlands hineinzuschnuppern. Irland war auch deshalb ihre erste Wahl, weil Englisch ihre Muttersprache ist. Für ihr Engagement wurden Yeboah und weitere Auszubildende aus verschiedenen Berufen kürzlich im Bremer Rathaus mit dem „Europass Mobilität“ ausgezeichnet. 

Jennifer Yeboah am Pflegebett
Mit Hebetechnik geht es leichter: Jennifer Yeboah an einem Pflegebett. Foto: Anja Sabel

Jennifer Yeboah wohnte bei einer Gastfamilie im südirischen Cork und hatte das Glück, in einer privaten Pflegeeinrichtung mit nur 26 Pflegebedürftigen, darunter Ordensschwestern, arbeiten zu können. Zwar sieht das irische Modell Zwölf-Stunden-Schichten mit drei Pausen vor; dafür, sagt Yeboah, habe sie sich nur um vier alte Menschen kümmern müssen. So habe sie viel mehr und intensiveren Kontakt gehabt und auch mal Zeit, sich hinzusetzen, zu plaudern und sich Sorgen anzuhören. „Das war für mich wie Urlaub“, sagt sie und lacht. 

Sie schwärmt auch von der Freundlichkeit und Herzlichkeit, denn Deutschland, verrät sie, empfinde sie im zwischenmenschlichen Bereich oft „ein bisschen kalt“. Und noch eine Sache hat es ihr angetan: Neben täglichen Angeboten wie Gottesdiensten, Gymnastik und Zeitungsrunden gab es nachmittags „richtiges Entertainment“ mit Gesang und Musikinstrumenten. Begeistert hat sie sich nach ihrer Rückkehr gleich in der Bremer Musikschule angemeldet, um das Erlernte später in den Pflegealltag einbringen zu können. 

Auch Irland wird bis zum Jahr 2051 massiv altern. Prognosen des irischen Statistikamtes zeigen: Die Zahl der 65-Jährigen und Älteren werden von rund 630000 auf etwa 1,6 Millionen Menschen ansteigen und sich damit mehr als verdoppeln. Die Folge: Es wird auch dort enorm investiert werden müssen in die Versorgung Pflegebedürftiger. Ursache für den im Vergleich zu Deutschland erst jetzt einsetzenden demografischen Wandel sind die in Irland bis in die 1980er Jahre bestehenden hohen Geburtenraten.

Wäre es nicht verlockend, dauerhaft in Irland zu arbeiten? „Nein“, sagt Jennifer Yeboah ganz klar. „Es wäre schön wegen der Sprache, aber auch Deutschland braucht Pflegekräfte.“ Sie erinnert sich an eine Bewohnerin in der Langzeitpflege in Bremen, allein, ohne Familie, ohne Besuche. Die fing an zu weinen und sagte, dass am liebsten sterben würde. Jennifer Yeboah umarmte sie und tröstete: „Jetzt sind wir Ihre Familie“. Das sei so traurig, sagt sie, "manchmal fehlt einfach Liebe". Sie wünscht sich mehr Zeit – zum Zuhören, zum Umarmen, zum Musizieren, zum Spaß machen. „Wenn die pflegebedürftigen Menschen glücklich sind, bin ich es auch.“

Anja Sabel