Porträt

Sein klarer Schnitt

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Heinrich Dierkes war Gemeindepfarrer und Militärseelsorger. Heute ist er verheiratet, Vater, verantwortlich für ethische Bildung in der Bundeswehr – und zufrieden mit dem Neuanfang, für den er sich entschieden hat.


Heinrich Dierkes, ehemaliger Priester, in seiner Bremer Wohnung, in der er mit seiner Familie lebt. Foto: Anja Sabel

Heinrich Dierkes ist erst seit wenigen Wochen katholischer Militärseelsorger in Ostfriesland, als er um zwei Uhr morgens in die Kaserne gerufen wird. Bundeswehrsoldaten sollen in einen geheimen Einsatz geschickt werden – deshalb die ungewöhnliche Uhrzeit. Dierkes bekommt eine Dose mit Heiligenplaketten in die Hand gedrückt. Bevor er sie verteilt, besprengt er die Plaketten mit Weihwasser und erklärt, was es mit Christophorus, dem Schutzheiligen der Reisenden, und dem Erzengel Michael, der Menschen in schweren Zeiten beisteht, auf sich hat.

Nicht alle Soldaten glauben an Heilige, dennoch greifen sie in dieser Nacht zu. Nach dem Motto: besser das als nichts. „Sie wussten zu dem Zeitpunkt nicht, wie gefährlich ihr Einsatz wird und wann sie zurückkommen“, sagt Dierkes. Einige befestigen eine Plakette an ihrer Erkennungsmarke, die sie um den Hals tragen und die aus zwei Teilen besteht. Fällt ein Soldat im Gefecht, wird ein Teil der Marke abgebrochen, um ihn identifizieren zu können. 

Für Heinrich Dierkes ist die Militärseelsorge spannend, weil er es dort mit Menschen zu tun hat, die – konfrontiert mit Tod und Töten – „durchscheinend werden für die Endpunkte des Lebens“. Während seiner Zeit als Seelsorger bei der Bundeswehr habe er immer wieder erlebt, dass der Umgang mit Waffen nie zum normalen Handwerk geworden sei. Im Gegenteil. „Wer tötet, bei dem bleibt etwas in der Seele.“ 

Dierkes mag die Ehrlichkeit von Soldaten. „Die tricksen nicht, die sagen: ,Mir geht’s scheiße, helfen Sie mir!‘“ Ein Militärpfarrer sei täglich präsent, immer sichtbar, ob bei Veranstaltungen oder in der Kantine. „Diese Geradlinigkeit, die Normalität und die Form des Miteinanders haben mich fasziniert. Das habe ich so in einer Kirchengemeinde nie gefunden“, sagt er. 

Krieg in Europa: das Bedrohungspotenzial steigt

Dierkes, geboren 1970, hat einen Lebenslauf mit Ecken und Kanten. Er wächst in Bremen auf, studiert in Münster Theologie und wird 1999 in Osnabrück zum Priester geweiht. Er ist Kaplan in Meppen und Twistringen, Gemeindepfarrer in Ostfriesland, wechselt in die Militärseelsorge. Heute ist er verheiratet, Vater einer achtjährigen Tochter – aber der Militärseelsorge verbunden geblieben: als Regierungsdirektor und stellvertretender Leiter des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften in Hamburg. Er reist für Vorträge durchs Land und will auch die Zivilbevölkerung für militärethische Fragen interessieren. Denn seit dem russischen Angriff auf die Ukraine, sagt er, rücke auch die Bundeswehr stärker in die Öffentlichkeit. Den Menschen sei die Gefahr eines Krieges in Europa, der sich ausweiten könnte, bewusst. Das Bedrohungspotenzial steige und verursache viel Unruhe. 

Als Kind und Jugendlicher lernt Heinrich Dierkes in Bremen das Ideal einer Kirchengemeinde mit eigenem Pfarrer kennen. Er sagt: „Ich bin Priester geworden, um mit Menschen den Glauben zu leben, so wie ich es selbst erlebt habe.“ Doch die Zeiten ändern sich. Bereits als Kaplan ist er für große Pfarreien „mit viel Strecke“ zuständig. Das Glaubensleben vor Ort wird fragiler. Spontan mit jemandem ein längeres Gespräch über Berufung führen – geht nicht. „Dafür musste ich extra Termine machen.“  

Gleichzeitig merkt Dierkes, dass er „von einem Mitmacher zum Macher“ geworden ist. Gemeindemitglieder wünschen sich zum Beispiel eine schöne Tauffeier, „aber was schön ist, haben die mir gesagt“. Wenn er Jugendliche, die gefirmt werden wollen, nach ihren Gründen fragt, lautet die nüchterne Antwort oft: „Weil ich sonst den Hof der Oma nicht erbe.“ Als Pfarrer in Ostfriesland spitzt sich die Situation zu: Grundsätzliche Fragen, auch zur Glaubensgemeinschaft, werden drängender und drängender.

Gekämpft, geweint, wach gelegen

Auf seine Bitte hin entsendet ihn Bischof Franz-Josef Bode in die Militärseelsorge, will ihn aber langfristig zurückgewinnen für die Pfarrseelsorge. Doch Dierkes befindet sich längst an einem Scheideweg: Will er überhaupt noch Priester sein? Er prüft sich, stellt fest: „Ohne Eucharistie hätte mir spirituell etwas gefehlt, aber mir fehlte es nicht, vorn am Altar zu stehen. Ich wollte auch gern weiterhin Teil einer Weggemeinschaft sein, aber nicht als Funktionsträger und Priester, sondern als Mensch mit Menschen.“ 

2009 steht ein Einsatz in Kundus in Afghanistan bevor. Heinrich Dierkes ist gut vorbereitet, aber irgendwann quält ihn der Gedanke: „Wenn ich dorthin gehe, um Soldaten in Extremsituationen beizustehen, muss ich meine persönlichen Fragen geklärt haben. Sonst bin ich als Seelsorger nicht hilfreich.“ Der Druck steigt. „Ich habe gekämpft, geweint, wach gelegen, aber irgendwann musste ich mich entscheiden. Nur ein klarer Schnitt fühlte sich ehrlich an.“

Heinrich Dierkes ist zunächst arbeitslos, findet sich im Bewerbungstraining mit Schulabbrechern wieder – bis ihm die Militärseelsorge eine berufliche Perspektive eröffnet. Mittlerweile ist er zufrieden mit seinem Leben – mit seiner Arbeit, als Ehemann und Vater. „Ich habe ja meinen Glauben nicht verloren, die Kirche ist mir nach wie vor wichtig.“ Aber er ist überzeugt, dass sie nur Zukunft hat, wenn sie die Menschen ernst nimmt und ihre Sprache spricht. „Dass ein Priester nicht heiraten darf, dass Homosexuelle abgelehnt werden, versteht da draußen niemand mehr. Die Kirche muss heute auf die Gesellschaft zugehen, nicht umgekehrt.“

Anja Sabel