Vom Warten auf eine Gedenkstätte

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Nur ein Schild verweist auf das frühere „Pöppendorfer Lager“ bei Lübeck.
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Foto: Sabine Zgraggen / kna

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Nur ein Schild verweist auf das frühere „Pöppendorfer Lager“ bei Lübeck.

Mehrere hundert Geflüchtete kamen nach dem Zweiten Weltkrieg täglich im Durchgangslager Pöppendorf bei Lübeck an, darunter Überlebende einer historischen Odyssee. Heute droht die Stätte im Wald zu versinken.

Wer durch das Waldgebiet Waldhusen bei Lübeck spaziert, wird kaum vermuten, dass sich dort nach dem Zweiten Weltkrieg eines der größten Flüchtlingslager Deutschlands unter britischer Besatzung befand. Fast eine Million Flüchtlinge mussten an diesem Ort zur Registrierung und Entlausung; sie wurden durchgeschleust und weiterverteilt. Mitunter kamen täglich 800 bis 1 000 Menschen am kleinen Bahnhof Lübeck-­Kücknitz an. Sie blieben meist wenige Tage, das Gepäck konnte am Bahnhof stehen bleiben. Die 700 Meter zum Lager legten sie zu Fuß zurück. Noch weniger dürfte bekannt sein, dass sich auf der Fläche von rund 100 000 Quadratmetern unter Laub und Geäst einst Weltgeschichte ereignete: Die sogenannte „Exodus“-Affäre fand an diesem Ort einen dramatischen Höhepunkt.

4 300 Holocaust-Überlebende kamen im Hamburger Hafen an

Im September 1947 landeten über 4 300 Holocaust-Überlebende nach einer Odyssee auf dem Meer – gegen ihren Willen und unter Militärgewalt – zunächst im Hamburger Hafen. Von dort aus führte ihr Weg in das Lager Pöppendorf, wo sie sich erneut hinter Stacheldraht und Wachtürmen wiederfanden, dieses Mal mit Maschinengewehren der britischen Alliierten im Anschlag. 299 Tage nach der enttäuschten Hoffnung der „Exodus“-Passagiere wurde am 14. Mai 1948 der Staat Israel ausgerufen.

Das Trauma wurde bisher indes kaum aufgearbeitet, und schon die zeitgenössische Bevölkerung nahm die Ereignisse kaum wahr, wie das Jüdische Museum Rendsburg schreibt. Seit über zehn Jahren bemühe sich nun der Gemeinnützige Verein Kücknitz um eine kulturhis­torische Erinnerungsstätte, sagt Georg Sewe, erster Vorsitzender des Vereins. Seit November 2014 macht ein Hinweisschild an einem Parkplatz im Wald auf das Projekt aufmerksam.
Spuren des Lagers sind längst überwuchert; die ehemaligen sogenannten Nissenhütten wurden bereits 1951, gleich nach der Schließung des Lagers, abgerissen. Ein einziges Original steht noch im Freilichtmuseum am Kiekeberg, südlich von Hamburg auf niedersächsischer Seite.

Nur aus der Luft lassen sich heute die einstigen Lagerplätze erahnen. Gemäß den Plänen des Vereins soll eine Dokumentations- und Erinnerungsstätte eingerichtet und gepflegt werden. Doch das Projekt steht vor noch ungelösten Aufgaben, wie Sewe erläutert: „Der Plan war, in einem Abschnitt einer ehemaligen Nissenhütte einen Informationspunkt in Waldhusen zu installieren. Leider sind unsere Bemühungen, Teile einer Nissenhütte zu beschaffen, erfolglos gewesen. Wir beabsichtigen jetzt, nach den alten Plänen einen Retro-Bau zu installieren.“

Buch und Film machten die „Exodus“ zum Mythos

Vor der Coronapandemie gab es noch Führungen zu den alten Lagerstätten. Doch Zeitzeugen, die den Ort mit dem Lager gut kennen, gibt es immer weniger. Das Wissen droht bald verloren zu gehen.

Ortskundler Dirk Harders aus Bad Schwartau nahm vor einigen Jahren an einer Führung teil und leitet nach längerem Suchen zu rechteckigen, laubbedeckten Gruben im Wald. Sie sind von einem nicht gekennzeichneten wilden Waldweg aus links- und rechtsseitig nur bei genauem Hinsehen zu erkennen. „Das waren die Latrine-Gruben“, so Harders. „Immer, wenn eine Reihe wieder mit der Notdurft voll war, wurde sie zugeschüttet, und einige Meter dahinter wurden neue Gruben ausgehoben.“

Um diesen Vorgang zu veranschaulichen, steigt der große Mann rund einen Meter tief hinab. So lässt sich erahnen, dass es hier größere bauliche Veränderungen gegeben haben muss. Das Internierungslager für die „Exodus“-Flüchtlinge lag streng bewacht nahe des historischen Ringwalls.

Auch angesichts der aktuellen politischen Lage stellt sich die Frage, warum es nach 72 Jahren keine offizielle Gedenkstätte in Pöppendorf Waldhusen gibt – außer einem halb mit Unkraut zugewachsenen Schild. Das Schicksal der „Exodus“-Flüchtlinge wurde durch den gleichnamigen Bestseller des US-Autors Leon Uris und die preisgekrönte Verfilmung zum Mythos. Anders als die Geschichte der über 60 weiteren Flüchtlingsschiffe nach Palästina der Jewish Agency und der Haganah, dem bewaffneten Arm der zionistischen Bewegung, blieb der Dampfer so im kollektiven Gedächtnis.

Sabine Zgraggen