Schwerpunkt: Neues Leben in alten Mauern

Wie Kirchen neu genutzt werden

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Digital Church in Aachen
Nachweis

Foto: Martin Braun

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Früher eine Kirche, heute ein Großraumbüro: die Digital Church, ehemals Elisabethkirche, in Aachen

Was tun, wenn eine Kirche nicht mehr gebraucht oder unbezahlbar wird? Viele Gläubige schmerzt diese Frage. Wir stellen drei Kirchen vor, die kreativ weitergenutzt werden – und in denen auch heute noch ein guter Geist weht.


// Die St.-Elisabeth-Kirche in Aachen

Ein Arbeitsplatz für Jungunternehmer

Wenn die Sonne scheint, tauchen die bunten Glasfenster die Espressobar im Altarraum der St.-Elisabeth-Kirche in Aachen in ein malerisches Licht. Von der Sofaecke oder den Liegestühlen aus kann man den Blick in das ganze Kirchenschiff werfen: Teppichboden, Sitzsäcke, knapp 100 Schreibtische und mehrere würfelartige Konstruktionen, die eigene abgetrennte Meeting- und Konferenzräume bilden.

Die profanierte Kirche wird seit Juli 2017 von dem Verein digitalHUB Aachen gemietet und als Coworking-Space angeboten. Im Grunde ist die Digital Church, wie die Kirche nun heißt, also ein Großraumbüro, das sich die Mitglieder des Vereins teilen. Solche Angebote werden oft von jungen Unternehmen, sogenannten Start-ups, genutzt. In Aachen haben aber auch Unternehmen aus dem Mittelstand und der Industrie die Möglichkeit, dort zu arbeiten. Daraus ergibt sich eine Gemeinschaft, die von Austausch und Netzwerk lebt. 

Damit habe das ehemalige Gotteshaus seinen Charakter beibehalten, sagt Norbert Hermanns. Er ist der Gründer und Aufsichtsratsvorsitzende der Landmarken AG, also jenes Immobilienunternehmens, das die St.-Elisabeth-Kirche im Jahr 2016 gekauft hat und an den digitalHUB vermietet. „Denn im Grunde sind Kirchengebäude Versammlungsräume, wo Menschen zusammenkommen“, sagt er. Genauso wie bei einem Coworking-Space.

Die Kirche stand schon länger, bereits seit 2012 zum Verkauf. Denn die Gottesdienstbesucher wurden in dem von Migration geprägten Aachener Stadtteil immer weniger und die Pfarrei Christus unser Bruder, zu der vier Kirchen gehören, konnte nicht mehr alle finanzieren. Mit seiner katholischen Prägung und der nötigen Erfahrung in der Immobilienbranche traute Hermanns sich die Kirchenumnutzung zu. Innerhalb eines halben Jahres baute sein Unternehmen das ehemalige Gotteshaus so um, dass es den Bedürfnissen des Vereins digitalHUB entsprach.

Ein großes Thema war die Akustik. „Kirchen sind gerade vor 100 Jahren mit einer hohen Nachhallzeit gebaut worden, damit der Priester ohne technische Verstärkung auch den Letzten in der hinteren Ecke erreichen konnte“, sagt Hermanns. Deshalb bauten sie viele weiche Elemente ein, die den Schall brechen, damit in der Kirche eine ruhige Arbeitsatmosphäre entsteht.

Die Verbindung zum Himmel

Eine weitere Herausforderung war die Installation einer dauerhaften Heizung. „Wir haben einen zweiten Boden, 20 Zentimeter über dem historischen Boden, eingebaut“, sagt Hermanns. In diesen Zwischenraum wird warme Luft hineingeblasen, der an verschiedenen Stellen aus dem Boden austritt und die Kirche warmhält. „Zudem konnten wir in dem Zwischenraum problemlos die Strom- und Internetkabel verlegen“, sagt Hermanns und scherzt, die Kirche habe damals vielleicht „eine Konnektivität in den Himmel“ gehabt, aber nicht ins Netz.

Diese Verbindung zum Himmel scheint auch nach dem Umbau des Gotteshauses nicht abgerissen zu sein. Iris Wilhelmi, Geschäftsführerin des digitalHUB, ist aufgefallen, dass sich die Atmosphäre der Kirche auf die Menschen, die dort arbeiten, auswirkt: „Viele sprechen automatisch leiser. Sie werden irgendwie ehrfürchtig.“

Ähnliches berichtet auch Hermanns. Bei einer Veranstaltung ist er mit einem Ingenieur ins Gespräch gekommen, der die Digital Church nutzt. Dieser habe ihm erzählt, dass Religion und Glaube in seiner Familie keine Rolle gespielt hätten. Doch durch die Arbeit in dem Kirchraum habe er eine Ahnung davon bekommen, dass es mehr gibt als das, was wir rational begreifen können.

Nicht zuletzt wegen dieser Atmosphäre ist die Digital Church ein beliebter Veranstaltungsort. Laut Wilhelmi gibt es jährlich um die 100 Netzwerktreffen, Podiumsdiskussionen oder Tagungen – auch von den christlichen Kirchen. Für Besucherinnen und Besucher steht die Kirche offen. Wilhelmi sagt, die Start-ups hätten nichts dagegen, denn daraus entstünden „fast immer schöne Gespräche“.

Auch wenn St. Elisabeth nicht mehr Eigentum der Kirche sei, könne sie stolz auf das Projekt sein, findet Hermanns. Denn auch als Coworking-Space komme das ehemalige Gotteshaus seiner ursprünglichen Funktion nach. Es verbindet Menschen – und weckt eine leise Hoffnung auf Gott.


// Die Melanchthonkirche in Osnabrück

Eine Pflegeeinrichtung für Senioren

Blick in ein Gebäude mit Sitzecke und Kaffee
In der ehemaligen Melanchthonkirche in Osnabrück finden sich etliche gemütliche Sitzecken. Foto: Jasmin Lobert

Wer die ehemalige evangelisch-lutherische Melanchthonkirche betritt, steht in einem Wohnzimmer: Die fensterlose Nordwand umschließt das Kirchenschiff vom Eingang bis zum Altarraum wie eine große Hand. Eine bunte Fensterfront erhellt den Altarraum, in dem sich heute eine offene Gemeinschaftsküche befindet. Im Kirchraum stehen Tische in Grüppchen verteilt, manche sind mit Tellern und Kaffeetassen gedeckt. Verwinkelte Sitzecken und Zimmerpflanzen schaffen Gemütlichkeit. 

Dieses Wohnzimmer teilen sich 25 Menschen. Denn die Kirche wurde vor zwei Jahren zu einer Pflegeeinrichtung umgebaut, die heute von der „Tagespflege am Bergerskamp“ geführt wird. Eine Bewohnerin ist Rosemarie Böhm. Die 92-Jährige liebt ihren Platz, von dem sie auf die bunten Kirchenfenster schauen kann. Die erinnern sie an die Geschichte, die sie mit dieser Kirche teilt. 

Sie hat 1962 den Aufbau der Kirche im Süden Osnabrücks hautnah miterlebt. Als hauptamtliche Diakonin der neu gegründeten Melanchthon-Gemeinde beauftragte Pfarrer Klaus Künkel sie damit, kräftige Helfer zu finden, um die Kirchenfenster vom Lastwagen ins Gebäude zu tragen. Böhm sprach kurzerhand einen „stattlichen Mann in einem Vorgarten an“, erzählt sie. Sie kamen ins Gespräch und er willigte ein. Das Tragen der Kirchenfenster und einen scheinbar endlos langen Spaziergang später war beiden klar: Es passt. Kurz darauf heirateten sie. „Gott hat mir durch die Kirchenfenster einen Mann geschenkt“, sagt Böhm heute, und Lachfältchen zieren ihre Augen.

„Das war wie eine Beerdigung“

Eine Frau im roten Pullover steht vor einem Fenster
Rosemarie Böhm war einst Diakonin in der Melanchthon-Gemeinde. Foto: Jasmin Lobert

Auf ihrem Lebensweg war die Melanchthonkirche immer ein enger Begleiter. Sie arbeitete dort, wohnte in der Nähe, ließ dort ihre Kinder taufen, feierte deren Konfirmationen und später ihre goldene Hochzeit. Doch mit den Jahren schrumpfte die Gemeinde. Der Kirchenvorstand entschied, das Gotteshaus zu verkaufen. 2015 wurden die Gottesdienste eingestellt. „Das war für uns sehr schwer“, sagt Böhm. „Als alles aus der Kirche rausgetragen wurde, das war wie eine Beerdigung.“ Lange sei unklar gewesen, was aus der Kirche wird.

2019 bekam schließlich ein Investor den Zuschlag. Die Planung und Schlüsselfertigbau GmbH aus Bohmte kaufte die schneckenförmige Rundbaukirche und baute sie zu einer Pflegeeinrichtung um. Diese Idee stellte Geschäftsführer Andreas van der Meulen vor Herausforderungen. Denn besonders Heizung und Akustik – für Senioren besonders wichtig – sind in einer denkmalgeschützten Kirche nicht so leicht anzupassen.  

Eine Dämmschicht, die mit Aussparung der denkmalgeschützten Fenster um die Kirche herumgebaut wurde, sorgt dafür, dass die Kirche warm bleibt. Durch die Kombination von Lüftungsanlage und Wärmepumpe kann die Raumtemperatur geregelt werden. Zahlreiche Akustikpaneele helfen, „dass man sich in der Kirche auch unterhalten kann“, sagt van der Meulen. 

Angrenzend zur Kirche entstand ein dreistöckiger Neubau mit 21 barrierefreien Apartments für betreutes Wohnen. „Meine größte Sorge war, dass die Kirche in die große Baugrube hineinfällt“, sagt van der Meulen. „Bis das erste Untergeschoss des Neubaus fertig war, hatte ich die ein oder andere schlaflose Nacht.“ 

Als Aufenthaltsraum bleibt die ehemalige Kirche ein echter Ort der Begegnung. Nicht nur für die Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch für Neugierige. „Jeder, der die Kirche von innen sehen möchte, kann gerne klingeln und sich ein wenig umschauen“, sagt Hagen Paul, Geschäftsführer der Tagespflege. Auch am Tag des offenen Denkmals öffnet die Einrichtung ihre Türen. 

Mit etwas Glück trifft man dann auf Rosemarie Böhm, wie sie auf ihrem Lieblingsplatz sitzt, den alle für sie freihalten. „Von hier kann ich auf die Fenster schauen, die mich an meinen verstorbenen Mann erinnern“, sagt sie.



// Die Heilandskirche in Leipzig

Ein Kulturzentrum für den Stadtteil 

„Von der Decke der Kirche rieselte der Putz, alles war muffig – und die Räume der Kirchengemeinde waren jämmerlich“, so beschreibt Pfarrer Martin Staemmler-Michael den Zustand der Heilandskirche in Leipzig im Jahr 2008. Damals trat er eine Stelle in einer Nachbargemeinde an. Lindenau-Plagwitz hatte keine eigene Pfarrstelle mehr – es lohnte sich nicht. Nach dem Zusammenbruch der Industrie in den 1990er-Jahren waren viele Menschen weggezogen. Häuser verfielen, Läden schlossen, die Kirche „war am Boden. Das hat keinen interessiert“, sagt Staemmler-Michael.
 

Kirchenumbau in Leipzig
Multifunktionale Räume: Im Untergeschoss der Leipziger Heilandskirche gibt es jetzt einen Veranstaltungssaal, ein Café und eine Begegnungsküche. Foto: Marcel Mischke


Doch dann kamen junge Leute. Sie belebten den Stadtteil neu – und mit ihm die Gemeinde. Ein frischer Kirchenvorstand übernahm das Ruder. Alle Mitglieder waren zwischen 18 und 35 Jahre alt. Sie überlegten, wie sie mit ihren beiden Kirchen – Philippus und Heiland, beide renovierungsbedürftig – umgehen sollen. Als Erstes wurde die Philippuskirche als Standort für das Gemeindeleben geschlossen. Doch auch Gebäude, die kein Leben mehr in sich haben, sind eine finanzielle Belastung. Also entwickelte der Kirchenvorstand einen Drei-Punkte-Plan: die Philippuskirche verkaufen, die Kita ausbauen, die Heilandskirche für den Stadtteil öffnen.

„Keiner ist gekommen“

Die Kita lief so gut, dass sie als erstes erweitert wurde. Mit öffentlichem Geld entstand Platz für 140 Kinder. Als Staemmler-Michael seine Stelle antrat, erlebte er die Eröffnung nach dem Umbau mit. Von nun an übernahm er Schritt eins des Plans: die Philippuskirche verkaufen. Der Prozess zog sich über Jahre, erst 2013 wurde die Kirche offiziell übergeben. 

Bei der Heilandskirche stand zunächst die Fassadensanierung an: Neue Fenster und Türen im Untergeschoss sollten ein sichtbares Zeichen setzen, dass sich die Kirche öffnet. Denn der neugotische Bau von 1888 war zu DDR-Zeiten geteilt worden. Eine Zwischen-decke trennte den Gottesdienstraum im Obergeschoss vom dunklen Untergeschoss, das als Lager für Kunstgut diente – aus Kirchen, die dem Braunkohleabbau weichen mussten.

Himmelstreppe
Symbol des Umbaus: die "Himmelstreppe". Foto: Jasmin Zwick

Nach Rückgabe und Umbau des Archivs wollte die Gemeinde im Untergeschoss der Kirche ein Familienzentrum eröffnen. „Aber keiner ist gekommen“, sagt Staemmler-Michael, „wir haben die Bedürfnisse der Menschen hier im Stadtteil nicht genau genug beobachtet.“ Anstatt die Idee zu verwerfen, justierte der Kirchenvorstand neu. Mit Sandro Standhaft, Mitbegründer eines großen Festivals der schwarzen Gothic-Szene, holte er einen Projektleiter ins Boot. Das Ziel: die Kirche zum Kulturzentrum machen.

Damit das klappt, sei der Kirchenvorstand immer zweigleisig gefahren, erzählt Staemmler-Michael: Er feilte an dem Konzept – und baute die Kirche weiter um, wenn sich Geld dafür auftreiben ließ. Im Untergeschoss entstanden multifunktionale Räume: ein Veranstaltungssaal, ein Café und eine Begegnungsküche mit Geschirr für 150 Personen. Konzerte, Lesungen, Seminare, Theater oder private Feiern – all das hat nun Platz. Das Obergeschoss ist weiterhin Gottesdienstraum, kann aber auch für Veranstaltungen genutzt werden. 

Ein zentrales Symbol des Umbaus ist die Himmelstreppe. Sie verbindet beide Ebenen. „Die Treppe, die ist wie zwei ausgestreckte Arme, als würde sie mich empfangen wollen“, sagt Staemmler-Michael. Sie erinnert an die Himmelsleiter aus dem Traum Jakobs im Alten Testament (Genesis 28,11–17). In das Geländer eingearbeitete Lampen stellen die Engel dar, die auf der Leiter auf- und absteigen.

Der Umbau kostete rund 3,2 Millionen Euro und wurde größtenteils aus öffentlichen Mitteln finanziert. Aktuell fehlten 250 000 Euro, um das Außengelände zu einem Pausenort umzugestalten, sagt Staemmler-Michael.

Wichtig ist, nicht aufzugeben

Das neue Konzept geht auf. 2023 wurde das Kulturzentrum unter dem Namen „Westkreuz“ feierlich eröffnet. Seitdem gehen „die Türen in alle Richtungen auf. Das ist irre“, sagt Staemmler-Michael. Das sei vor allem dem Projektleiter zu verdanken. Er habe Perspektiven eingebracht, „die wir als Kirche gar nicht denken – und dafür brauchen wir Menschen, die in ganz anderen Communitys unterwegs sind“, so der Pfarrer.

Sein Rat an Gemeinden, die Kirchen neu nutzen wollen: „Es ist ein Ausprobieren und sich selber Korrigieren.“ Wichtig sei, nicht aufzugeben. Auch ein gescheiterter Plan kann neu beginnen – und aus einer maroden Kirche kann ein Zuhause für Glaube, Kultur und das Leben 

Jasmin Lobert

Ein Interview mit Experte Albert Gerhards über die Weiternutzung von Kirchen, die für den Gottesdienst nicht mehr gebraucht werden, lesen Sie hier „Abriss ist immer die schlechteste Lösung“