Caritas-Chef Oliver Müller zur humanitären Lage
„Wir dürfen Gaza nicht vergessen“

Foto: imago/Upi Photo
Palästinenserinnen in Gaza flehen um Essen
Wie ist die Lage für die Menschen in Gaza aktuell?
Die Lage ist katastrophal. Fast zwei Millionen Menschen wissen nicht, ob und wann sie eine Mahlzeit erhalten. Das sind 93 Prozent der Bevölkerung. Ein 25-Kilo-Sack Mehl kostet mittlerweile zwischen 500 und 1500 US-Dollar. Die Menschen in Gaza stehen am Rande einer Hungersnot.
Seit Ende Mai läuft die Verteilung der Hilfsgüter für Gaza über eine Stiftung, die von Israel und den USA gegründet wurde. Was bedeutet das?
Früher gab es im Gazastreifen rund 1000 Servicestellen, an denen humanitäre Hilfe geleistet wurde. Die neue Gaza Humanitarian Foundation betreibt nur noch vier Verteilzentren, drei davon im Süden. Hilfsbedürftige Menschen müssen zu Fuß oft kilometerlange Strecken zurücklegen, um die Zentren zu erreichen. Kranke, Alte oder Menschen mit Behinderung werden so völlig ausgeschlossen. Der Chef des UN-Hilfswerks UNRWA spricht in diesem Zusammenhang von „erzwungener Umsiedelung“.
Immer wieder ist in den Medien von Schüssen und Todesopfern an den Verteilzentren zu lesen. Was hören Sie von Ihren Mitarbeitenden aus Gaza?

Die Nachrichten von Todesopfern an Verteilzentren haben mich zutiefst schockiert. Das Chaos dort zeigt, dass es definitiv kein funktionierendes System ist, das die Arbeit von internationalen Hilfsorganisationen und den Vereinten Nationen ersetzen kann. Weder Organisationen wie die Caritas noch die UN sind in das neue System involviert. Generell ist die Situation für unsere lokalen Mitarbeitenden sehr bedrückend. Ein Helfer hat uns per WhatsApp geschrieben, dass die psychischen Belastungen unerträglich sind. Er hat ständige Kopfschmerzen, ist erschöpft und schläft nicht, weil er bei der Arbeit immer mit dem Tod rechnen muss.
Was bedeutet das für die Arbeit von Caritas international?
Damit wir und unsere Mitarbeitenden wieder vollumfänglich Nothilfe leisten können, müssen schlicht und ergreifend die Grenzen für humanitäre Hilfe ohne Einschränkungen geöffnet werden. Es ist eine künstlich herbeigeführte Notsituation und das ist dramatisch. An den Grenzen zu Gaza warten Tausende mit Hilfsgütern beladene Lastwagen, die nicht passieren dürfen.
Mit welcher Begründung?
Die israelische Regierung führt Sicherheitsbedenken an. Es gibt auch den Vorwurf, dass Hilfsgüter an die Hamas geraten. Aber das lassen wir nicht gelten. Wir haben die Verteilung von Lebensmitteln lückenlos dokumentiert.
Wie können Sie den Menschen überhaupt noch helfen?
Die dafür ausgebildeten Mitarbeitenden leisten psychologische Unterstützung für Menschen, die durch die andauernden Kriegshandlungen und die damit einhergehenden Fluchterfahrungen traumatisiert sind. Zudem organisieren wir mobile Wasserwagen und installieren Latrinen. Es gibt insgesamt einen gravierenden Mangel an sauberem Wasser, da aufgrund des Treibstoffmangels Pumpen nicht mehr betrieben werden können. Seit Kriegsbeginn haben die Nothilfen von Caritas international mehr als 100 000 Menschen erreicht.

Was muss geschehen, damit die Menschen in Gaza wieder besser versorgt werden können?
Es braucht einen sofortigen Waffenstillstand, die Öffnung der Grenzen für humanitäre Hilfe ohne Einschränkungen und einen Verteilungsmechanismus, der den humanitären Prinzipien von Menschlichkeit, Neutralität und Unparteilichkeit entspricht.
Auslöser des Krieges in Gaza war das Massaker der Hamas an Israelis im Oktober 2023. Noch immer sind Geiseln in der Hand der Terroristen. Ist Israels Reaktion darauf noch verhältnismäßig?
Ich kann diese Verhältnismäßigkeit nicht mehr erkennen. Wir sprechen mittlerweile von mindestens 55 000 getöteten und 127 000 verletzten Menschen in Gaza. Die Hälfte der Bevölkerung dort sind Kinder und Jugendliche, die enorm unter dem Krieg leiden.
Setzt Israel die Verknappung der Lebensmittel bewusst als Waffe ein?
Ich halte das aktuelle Vorgehen der israelischen Regierung für nicht mit dem Völkerrecht vereinbar. Bei allem Verständnis für den Kampf gegen den Terror der Hamas müssen wir Israel an die Einhaltung des für sie bindenden humanitären Völkerrechts erinnern. Zu viele unschuldige Menschen werden in Gaza bestraft und eine Versorgung der Notleidenden wäre durchaus möglich, auch wenn Israel weiterhin militärische Ziele verfolgt.
Man merkt Ihnen die Empörung an.
Ja. Denn die israelische Regierung nutzt die Übergriffe an den Verteilzentren als Argument dafür, dass man nicht zur früheren humanitären Hilfe zurückkehren könne. Aber ich kann es ausgehungerten Menschen, die um ihr Leben kämpfen, nicht verdenken, dass sie alles versuchen, um an Lebensmittel zu gelangen. Israel hat durch die Verknappung von Lebensmitteln die aktuellen chaotischen Verhältnisse erst hervorgerufen.
Welche Folgen hat der Krieg zwischen Israel und Iran für Gaza?
Er könnte dazu führen, dass die Situation in Gaza für die Öffentlichkeit aus dem Blick gerät. Aber das darf nicht passieren. Wir dürfen Gaza nicht vergessen.
Welche Rolle kann dabei die deutsche Regierung spielen?
Wir müssen nüchtern anerkennen, dass die USA am ehesten in der Lage sind, Einfluss auf die israelische Regierung zu nehmen. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass unser Bundeskanzler klargemacht hat, dass Hilfsgüter ohne Verzögerung die notleidende Bevölkerung erreichen müssen. Es ist kein Widerspruch, Solidarität mit Israel zu zeigen und gleichzeitig die Einhaltung des humanitären Völkerrechts anzumahnen.
Zur Person
Oliver Müller ist Leiter von Caritas international, dem Hilfswerk der deutschen Caritas.