Anstoß 50/2023

Schreibschrift und der liebe Gott

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In der Kirche liegen leere Zettel für Fürbitten, daneben Stifte. Wer will, kann etwas schreiben. Das tun wir. Dann schaut mich unsere jüngste Tochter mit ihrem fertigen Zettel fragend an: „Was passiert, wenn man nicht ordentlich schreibt und Gott das nicht lesen kann?“

Portrait Guido Erbrich
Guido Erbrich
Senderbeauftragter der katholischen Kirche beim Mitteldeutschen Rundfunk

Was für eine Frage! Mal abgesehen davon, dass der liebe Gott wahrscheinlich kein allzu großes Schrifterkennungsproblem haben wird, gefällt mir die Frage unserer Jüngsten ausgesprochen gut. Weil sie sich mit dieser Frage aus ihrer Position als Schreiberin in die Rolle ihres Gegenübers begibt. Schließlich gibt es da jemanden, der das lesen soll. Also mit dem klarkommen muss, was andere Leute aufs Papier bringen. Sie fragt, als ob es das Normalste auf der Welt wäre, sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen; die andere Seite beim eigenen Tun nicht zu vergessen, erst recht nicht Gott. 
Allerdings, so ganz typisch ist die Haltung, über den eigenen Tellerrand zu blicken, leider nicht. Wie schön wäre es auf unserer Welt, wenn jeder versuchen würde, die Konsequenzen seines Handelns von Anfang an zu bedenken? Auch dann würde noch einiges drunter und drüber, ja schiefgehen. Aber in einem Klima des „auch mal in die andere Rolle Schlüpfens“ lässt sich mit Sicherheit weit besser miteinander leben, als wenn jeder nur versucht, sich zum alleinigen Maßstab zu machen. 
Schreibe für deine Nächsten so, als ob du es selbst lesen müsstest. Rede mit anderen so, dass du es dir selbst auch anhören könntest. Handle an anderen so, dass du es auch an dir gerechtfertigt finden würdest. Ein solches Miteinander hätte auch Auswirkungen auf Kritik- und Streitkultur. Gerungen wird dann eher um die bessere Lösung als um das Rechtbehalten.
Die Welt könnte so schön sein, wenn wir über unsere Schatten springen und den anderen im Blick behalten. In der Bibel ist diese Haltung übrigens auch zu finden. Ziemlich zentral sogar: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Damit kann ich beim Schreiben ja schon einmal anfangen.

Guido Erbrich