Anstoß 20/2023

Wundmale

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Am 3. Mai 2023 geschah in einer Grundschule unserer Nachbarschaft ein Attentat. Ein Mann stach mit einem Messer auf zwei Mädchen ein und verletzte eines lebensgefährlich. Der Schock über die Tat saß tief. Am Tag danach suchten viele Eltern und ihre Kinder „etwas, um den Wahnsinn zu verarbeiten“.

Lissy Eichert, Berlin
„Wort zum Sonntag“ – Sprecherin

Zur Normalität zurückfinden, Sicherheit zurückgewinnen – dafür wurde der Schulbetrieb für den Rest der Woche unterbrochen. Währenddessen ging um sie herum der Alltagstrubel weiter. Nur ein paar Straßen weiter kümmerte es keinen mehr, welche Ängste Schüler, Lehrer und Eltern an diesem Tag erlebten. 
„Wie geht es dir damit?“ Für diese Frage braucht es Raum und Zeit für echten Austausch. Einige Eltern kamen mit ihren Kindern in das Mittagsgebet, das regelmäßig in unserer Kirche stattfindet. Pfarrer Kalle Lenz blickte in gut gelaunte Kindergesichter. Sie strahlten, freuten sich über die unerwarteten freien Tage. Die Eltern dagegen wirkten besorgt, verunsichert. Viele waren im Gedanken bei den Eltern, die um das Leben ihrer Kinder bangten.
„Ich werde die gute Stimmung der Kinder jetzt nicht durch Betroffenheit zerstören, aber das Schreckliche von gestern natürlich aufgreifen“, wandte sich Lenz an die Eltern und deutete auf die brennende Osterkerze vor dem Altar. Er zeigte auf die fünf roten Stifte, die aus ihr herausragten. Sie symbolisieren die Wunden, die Jesus bei der Kreuzigung zugefügt wurden: oben durch die Dornenkrone, Nägel in Händen und Füßen, ein Stich mit der Lanze in die Seite. „Wir alle erleben schlimme Dinge. Es gibt sie leider im Leben.“ Die Kinder verstanden das sofort. Zu den Eltern sagte er: „Trotz der Wundmale ist da dieses flackernde Feuer an der Spitze der Osterkerze. Ein Leuchten, das Licht in die Dunkelheit bringen kann.“ Viele Eltern fühlten sich durch diese Zusage ermutigt. 
Ja, es gibt dieses besondere Licht – nicht nur in bangen Zeiten. Eine göttliche Wirkmacht, mit der ich mich verbinden kann. So wird Hoffnung geweckt, mitten in unserem wunden Alltag. Jesus sagte: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh 8,12). Wunden begegnen uns im Leben – durch die Osterkerze können sie in ein anderes Licht kommen.

Lissy Eichert