Austellung

Christlicher Bilder-Tsunami

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Lift Not the Painted Veil
Nachweis

Foto: Mirjam Devriendt

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Lift Not the Painted Veil

Werke von Berlinde De Bruyckere beeindrucken in Hamburgs Ernst Barlach Haus.

Der Raum hat etwas Sakrales. In seiner Mitte liegt aufgebahrt wie in einer Kapelle eine in Schleier gehüllte menschliche Figur. Die belgische Bildhauerin Berlinde De Bruyckere hat sie lebensgroß in Wachs und Epoxidharz gefertigt und auf einen aus Metallschrott zusammenimprovisierten Tisch in den fast saalgroßen Raum Nummer 4 des Barlach Hauses in Hamburg gelegt. So umflutet zugleich die Anmutung von Elend und Verwahrlosung den Betrachter.

De Bruyckere schuf dieses Werk eigens für die Schau. Sein Titel ist auch der Titel der Ausstellung: „Lift Not the Painted Veil.“ Er ist Zeilen eines Gedichts von Percy Bysshe Shelley entnommen, die übersetzt lauten: „Heb nicht den bemalten Schleier, der Lebenden das Leben ist.“ Der bunte Schleier ist demnach nur ein Trugbild, hinter dem sich Angst und Hoffnung verbergen. Die 1964 in Gent geborene und in einer katholischen Familie aufgewachsene Künstlerin geht über diese Zeilen des 1822 gestorbenen englischen Dichters hinaus. „Während ich das Ergebnis meiner Arbeit betrachtete, erhob sich ein wahrer Bilder-Tsunami. Vor meinem inneren Auge sah ich die Skulptur ,Verhüllter Christus’ in der Cappella Sansevero in Neapel, geschaffen von Giuseppe Sanmartino“, so De Bruyckere.

De Bruyckere gehört zu den immer weniger werdenden zeitgenössischen Künstlern, die bewusst auch auf christliche Ikonografie zurückgreifen, um Menschen mit ihrer Kunst zu berühren – einer Kunst, die um die Themen Tod, Vergänglichkeit, Verwundbarkeit und Schmerz kreist. Aufsehen erregte sie unter anderem 2013 mit der Installation „Cripplewood“ auf der Biennale in Venedig. Das Werk, dessen Titel mit „Krüppelholz“ übersetzt werden könnte, bestand aus Stämmen und Ästen einer Ulme, die mit Tüchern verbunden waren und menschlichen Muskelsträngen ähnelten. De Bruyckere bezog sich damit auf den heiligen Sebastian, der so häufig wie kein anderer Heiliger in der Lagunenstadt dargestellt ist. In der Installation wird er zusammengedacht mit dem Baum, an den er gefesselt und dann mit Pfeilen erschossen wurde. Auch im Barlach Haus findet sich mit „After Cripplewood III“ ein mächtiger, teils mit Textilien umschnürter Baumstumpf, der dieses Motiv aufnimmt.

Verhüllte Erzengel

„Sjemkel I“ – der Titel bedeutet soviel wie „Flügel I“ und verweist auf Engelsfiguren. Foto: Mirjam Devriendt

Mit „Liggende – Arcangelo III“ ist in der Ausstellung ein weiteres Werk zu sehen, das ein zentrales Motiv von De Bruyckere zeigt: Erzengel. Mit „Arcangelo II“ gehört eine weitere Darstellung seit einigen Jahren der Hamburger Kunsthalle. Die Erzengel sind jeweils von einer Decke umhüllt, nur ihre geschundenen Unterschenkel und Füße sind sichtbar. Diese Erzengel De Bruyckeres entstanden während der Corona-Pandemie. Erzengel überbringen bedeutende Botschaften, und insofern weist der Titel auch weit über die Einschränkungen und das Leid hinaus, die die Pandemie für viele Menschen mit sich brachte. Es geht grundsätzlich um Schutz genauso wie um Einsamkeit, die De Bruyckeres Erzengel beklagen.

Diese existenziellen Themen verbinden sich im Motiv der Decken, die oftmals so verdreckt erscheinen wie die von Obdachlosen, die auf der Straße leben. Hier ist auch die zentrale Beziehung zu den Skulpturen Ernst Barlachs, die in dem Ausstellungshaus stets in Korrespondenz zu den Werken von Wechselausstellungen gesetzt werden. Wie seine „Verhüllte Bettlerin“ von 1919 scheinen sie sich am liebsten in ihre Gewänder verkriechen zu wollen. De Bruyckere stand nach eigener Auskunft auch unter dem Eindruck von spanischen Heiligenskulpturen aus dem 17. Jahrhundert, die auf Prozessionen während der Karwoche getragen wurden und die die Künstlerin in einer Ausstellung in London gesehen hatte. Ihr seien sie eher erschienen „wie monumentale skulpturale Objekte, die geschaffen wurden, um Menschen miteinander zu verbinden“. Das dürfte ihr auch mit der Schau im Barlach Haus gelingen, zumal die Werke dort sehr großzügig präsentiert werden und so ihre Wirkung voll entfalten.

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Termine
  • Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma,
    Jenischpark, Baron-Voght-Straße 50A, 22609 Hamburg,
    bis 2. November, Eintritt 9 Euro.

    Internet: www.barlach-haus.de 

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Matthias Schatz