Was uns diese Woche bewegt

Ludmilla lernt Deutsch

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Kinder saugen fremde Sprachen auf wie ein Schwamm. Beneidenswert, denn Erwachsene tun sich erheblich schwerer, eine Fremdsprache zu lernen. Man paukt Vokabeln und Regeln und bemüht sich krampfhaft, grammatikalisch nichts falsch zu machen. Das flüssige Sprechen – oft eine große Hürde.

Seit gut einem Jahr treffe ich morgens an der Bushaltestelle Ludmilla. Sie grüßt immer mit einem freundlichen „Guten Morgen“. Unterhalten haben wir uns noch nie, weil Ludmillas Deutschkenntnisse dafür nicht ausreichen. Aber ihr Lächeln signalisiert mir, dass sie durchaus kommunikativ ist. Ich wusste bisher nur, dass sie Ukrainerin ist und regelmäßig den Deutschunterricht besucht.

Zu Beginn des neuen Jahres überraschte sie mich. Wir hatten uns länger nicht gesehen, und plötzlich kam nach dem „Guten Morgen“: „Ich wünsche gesundes neues Jahr.“ Und Ludmilla radebrechte munter weiter. Sie stammt aus der Stadt Charkiw im Osten der Ukraine, ich erfuhr, dass ihr Haus von russischen Bomben zerstört wurde und dass sie allein nach Deutschland gekommen ist. Ihr Sohn darf nicht ausreisen, die Tochter lebt in Kiew, der Enkel geht in die dritte Klasse. Und sie vermisst natürlich alle schmerzlich. 

So viele Informationen in fünf Minuten! Was war passiert?

Ludmilla hatte ein Praktikum in einem Second-Hand-Geschäft gemacht und war dort quasi gezwungen, sich mit Kunden zu unterhalten. So konnte sie die Hemmschwelle, Deutsch zu sprechen, offensichtlich überwinden.

Ich bin ungefähr im gleichen Alter wie Ludmilla. Es wäre schrecklich, aus Deutschland fliehen zu müssen, alles zu verlieren, mich um das Leben meiner Familie sorgen und dann auch noch eine fremde Sprache lernen zu müssen. Wir sollten es Geflüchteten so leicht wie möglich machen. Sprachunterricht ist gut und wichtig, aber es braucht auch ehrenamtliches Engagement: Sprachcafés zum Beispiel oder kleine Freizeitgruppen, in denen man zwanglos drauflosreden und ruhig Fehler machen kann. In der Kirche gibt es viele solcher Angebote. Und manchmal hilft schon der kurze Kontakt an der Bushaltestelle.
 

Anja Sabel