Passionsspiele in Crostwitz 2025
„Přiklesk, Chrósćicy!“ – „Applaus, Crostwitz!“
Foto: Raphael Ledschbor
Etwa 180 Darsteller stehen bei den Passionsspielen auf der Bühne.
Foto: Michael Burkner
Ein junger Mann – dunkelblonder Kurzhaarschnitt, moderne runde Brille, das grüne Hemd bis zu den Ellenbogen hinauf gekrämpelt – ruft flehend: „Božo, přijimi mojeho ducha! (Herr, nimm meinen Geist auf!)“, während der andere, der mit dem Vollbart, der ihm in aggressiver Haltung gegenübersteht, wütender und wütender wird. „Kamjenujće jeho! (Steinigt ihn!)“, wiederholt er immer wieder seine Aufforderung. „Jězuso, Jězuso! Njelič jim to za hrěch! (Jesus, Jesus! Rechne ihnen diese Sünde nicht an!)“, sagt der junge Mann mit der runden Brille noch, dann wird er abgeführt, über den Boden in eine Ecke geschleift. Plötzlich muss er kichern, versucht das Lachen zu unterdrücken. Es gelingt nicht ganz. Auch die Umstehenden, die eben noch mit ungläubigen, wütenden oder traurigen Blicken die Szene verfolgt haben, schmunzeln kurz. Die Stimmung löst sich. „Super, super!“, ruft ein Mann, der nun zu ihnen auf die mit Klebeband abgesteckte Bühne läuft und in die Hände klatscht – teils, um das Lob zu betonen, teils, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. Dann erklärt er mit lebhafter Stimme einige Korrekturen. Der junge Mann hat sich in der Zwischenzeit vom Boden aufgerappelt, das grüne Hemd wieder zurechtgezupft und nickt verstehend. Sein Lachen ist einem konzentrierten Blick gewichen. Eigentlich heißt er Maximilian, doch aktuell wird er jeden Montagabend zu Stephanus – besser: zu Šćěpan. Und der Mann, der eben noch seinen Tod gefordert hat, der wild auf ihn gezeigt und geschrien hat, ist gerade Saulus. Sonst heißt er Marco. Normalerweise schreien sich Maximilian und Marco nicht an, wünschen einander nicht den Tod. Nur heute, nur an all den Abenden, an denen sie im Pfarrhaus die Eröffnungsszene der Crostwitzer Passionsspiele proben – auf ihrer Muttersprache, auf Sorbisch.
Eine alte Geschichte erscheint in neuer Form
Die Geschichte der sorbischen Passionsspiele geht mindestens bis ins Jahr 1914 zurück, als ein erster Text für ein Theaterstück über Christi Tod und Auferstehung auf Sorbisch herausgegeben wurde. Spätestens 1936 und 1939 gab es erste Passionsaufführungen in Crostwitz, diesem Dorf zwischen Kamenz und Bautzen, einem der Zentren der obersorbischen Sprache und Kultur. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung sind hier katholisch und fast genauso viele nennen das Sorbische ihre Muttersprache. Mit Gründung der DDR verbot die politische Führung die Aufführung der Passion. Erst 1995 konnte es wieder „Jewišćo swobodne za pasion!“ („Bühne frei für die Passion!“) heißen. Jurij Spittank stieß damals die Wiederaufführung an und schrieb mit anderen Autoren die Texte. Peter Gärtner war in der Rolle eines Soldaten Teil dieser ersten Nach-Wende-Aufführung, die noch in der Pfarrkirche stattfand. „Da wurden Löcher in die Wände gebohrt, um den Vorhang zu befestigen“, erinnert er sich heute und schüttelt dabei fast ein wenig ungläubig den Kopf. Seitdem werden die Crostwitzer Passionsspiele alle zehn Jahre aufgeführt, schon seit 2005 im Pfarrgarten. Das Skript wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verändert. Peter Gärtner war am diesjährigen Text beteiligt und verrät: „Dieses Mal arbeiten wir mit Rückblenden. Im Publikum wird eine zweite kleine Bühne aufgebaut. Dort treffen sich Menschen, die Jesus begleitet haben, nach seinem Tod und teilen ihre Erinnerungen an ihn.“ Die Idee hat pragmatische Aspekte – während dieser Zwischenspiele kann die Hauptbühne für die nächste Passionsszene umgebaut werden – aber auch dramaturgische: „So erzählen wir die Passion aus der Perspektive, aus der wir sie heute sehen: mit einem Blick in die Vergangenheit“, erklärt Gärtner. „Sćěhuj mje!“ – „Folge mir nach!“ heißt der Text, wegen eben jener Gespräche zwischen Menschen, die dieser Aufforderung Jesu nachgekommen sind. Und weil die Autoren dies auch den Zuschauern zurufen und mit auf den Weg geben möchte: „Sćěhuj za Jězusom!“ – „Folgt Jesus nach!“
Eine Sprache kämpft ums Überleben
Die Steinigung des Stephanus und die daran anschließende Bekehrung des Saulus ist der Beginn des Stücks, auf den die Hochzeit von Kana folgt. Auf der Bühne wird getanzt und gefeiert – und ordentlich gebechert. Der Hochzeitsbitter kümmert sich um das Wohl aller Gäste. Voller Elan geht er in dieser Rolle auf, die er auch schon im echten Leben bekleidet hat. Was die Zuschauer nicht wissen: Die Szene ist ein kleines Familientreffen. Denn der Apostel Johannes, der Jesus begleitet, und die Braut der Hochzeit sind in Wirklichkeit die Crostwitzer Geschwister Jonas und Leandra Noack. Ihre Mutter Martina bekleidet die Rolle der Maria. Während Leandra als Braut eine Nebenrolle ohne Text spielt, muss sich Jonas einiges merken. „Es macht sehr viel Spaß, gemeinsam zu proben. Man kennt sich hier“, sagt der 21-Jährige. Dass er noch nie richtig Theater gespielt hat, merkt man ihm gar nicht an – der Text sitzt. Für die Geschwister ist Sorbisch mehr als ihre Muttersprache. „Es ist ein Teil von uns, gehört einfach zu unserer Identität dazu. Es wäre total komisch, zu Hause deutsch zu sprechen“, sagt Jonas, seine Schwester nickt zustimmend.
Foto: Michael Burkner
Damit sind die beiden Muttersprachler einer Sprache, von der sie nicht wissen, wie lange es sie noch gibt. Belastbare Daten daüber, wie viele Menschen wie in Crostwitz Obersorbisch sprechen, gibt es nicht. Eduard Werner, der als Professor am Institut für Sorabistik über sorbische Sprache, Literatur und Kultur forscht, schätzte die Zahl 2022 auf „erheblich weniger als 5500 Sprecher im Kerngebiet“. Andere Quellen, etwa der Dachverband sorbischer Vereine und Vereinigungen, nennt deutlich höhere Zahlen von „bis zu 25 000 Sprechern“. Woher diese unterschiedlichen Einschätzungen kommen, darüber herrscht Uneinigkeit. Einig sind sich wohl alle, wenn es um die Bedeutung von Kulturveranstaltungen wie den Passionsspielen für den Erhalt der Sprache geht. „Der Einfluss ist nicht messbar und nicht in Zahlen zu formulieren. Aber alles, alles, alles, wo eine Sprache gesprochen wird, trägt zum Erhalt dieser bei“, sagt ein Mitarbeiter des Instituts für Sorabistik. Er ist optimistisch, dass das Obersorbisch in den nächsten Jahrzehnten nicht aussterben wird. Aber es sei ein essenzielles Problem für die Förderung und den Erhalt der Sprache, dass es keine zuverlässigen Sprecherzahlen gebe.
Ein Grundschullehrer spielt den Jesus
Zurück nach Crostwitz: Dort hat sich die Szene ein weiteres Mal geändert. Ein Mann mit weißer Schiebermütze steht im Zentrum des Geschehens, den Blick gesenkt. Fabian Heiduschke spielt Jesus Christus – als er im letzten August für diese große Rolle angefragt wurde, musste er nicht lange überlegen: „Es ist eine Herausforderung, vor allem aber eine große Ehre. Von der Regie war ich schnell überzeugt“, erzählt er nach der Probe. Öffentliches Reden ist ihm schon vertraut – als Schüler und Student moderierte er Podiumsdiskussionen und die Jugendsendung des sorbischsprachigen Radios. Die Bühnenpräsenz als Schauspieler erarbeitete er in intensiven Einzelproben mit dem Regisseur. Auch Filme und Serien dienten zur Vorbereitung auf die Rolle. Der Grundschullehrer kann dabei auch von seinem Beruf profitieren: „Dem Regisseur war es sehr wichtig, dass Jesus in der Passion mit den Aposteln menschlich umgeht und auf Augenhöhe spricht – so, wie ich mit meinen Schülern.“ Die kleinen Schützlinge fänden es cool, ihren Lehrer bald auf großer Bühne zu sehen und seien schon gespannt. „Manchmal werde ich spaßhaft mit ‚Jesus‘ angesprochen, das finden sie natürlich lustig“, erzählt Heiduschke.
Auf der Bühne geht es derweil oft gar nicht lustig zu. Jesus steht gerade vor Pilatus, mit gesenktem Blick, seinem Schicksal ergeben. Er weiß, was ihn erwartet. Kaiphas redet drängend – „etwas ketzerisch, ironisch lächelnd“ heißt es im Skript – auf den römischen Stadthalter ein, der Jesus auspeitschen und Barrabas kreuzigen lassen möchte. Die Menge im Hintergrund wird immer unruhiger, lauter. Es bilden sich zwei Lager, irgendwann fordern die einen die Begnadigung von Barabbas im Chor, während die anderen mit „Jězus!“-Rufen dagegen halten wollen. Zum Schluss taucht Pilatus seine Hände in eine ihm gereichte Schüssel mit Wasser, sagt „Sym njewinowaty na kreji tutoho sprawneho!“ („Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten!“) und verurteilt Jesus zum Tode.
Foto: Raphael Ledschbor
Ein Theaterschauspieler hält die Fäden in der Hand
Eine laute, eine intensive, eine emotionale Szene geht zu Ende – eine Herausforderung für die Laienschauspieler, die fast alle aus der Crostwitzer Kirchengemeinde stammen. Immer wieder proben sie geduldig den Abschnitt, immer wieder gibt es Verbesserungen und Anpassungen. Der Mann, der die Fäden des Stücks in den Händen hält, der ebenso eindringlich und dynamisch wie freundlich auf die Schauspieler einredet und dabei zumeist mit schnellen, großen Schritten umher läuft, ist Regisseur Marian Bulang. Im Hauptberuf ist er Theaterschauspieler am deutsch-sorbischen Volkstheater im nahen Bautzen. Seit vielen Jahren übernimmt er regelmäßig Regierollen – man merkt ihm an, dass er für diese Arbeit brennt. „Es wächst, es wächst“, sagt er nach der Probe. „Erst mussten wir uns kennenlernen, dann haben wir die Figuren ausgerichtet. Wenn wir mehr und mehr aufeinander vertrauen, kommen wir dem Ergebnis immer näher.“ Der gemeinsame Weg durch die wöchentlichen Proben und die Gemeinschaft seien für ihn das Ziel, auf die Aufführungen freut er sich aber natürlich auch, „wenn am Ende alle mit einem Lächeln, mit einem glücklichen Gesicht auf der Bühne stehen und den Stolz und den Zusammenhalt spüren.“
Nach der Sommerpause bleiben ihm und den rund 250 Beteiligten, zu denen unter anderem auch ein Chor, eine Tanzgruppe und zehn Simultanübersetzer gehören, noch ein paar Wochen intensiver Proben. Darauf folgen fünf Aufführungen im Pfarrgarten. Viel Arbeit für den kleinen Ort und seine Kirchengemeinde. „Aber auch ein riesen Ding für die Menschen hier“, wie es Peter Gärtner formuliert. Die Vorfreude merkt er den Menschen jetzt schon an. Vorfreude darauf, dass im September wieder Freunde, Bekannte und Verwandte gemeinsam auftreten. Vorfreude darauf, dass am Ende die Auferstehung und die Aufforderung „Sćěhuj mje!“ („Folge mir nach!“) steht. Und Vorfreude darauf, dass es ganz zum Schluss „Přiklesk, Chrósćicy! (Applaus, Crostwitz!)“ heißt.
„Folge mir nach!“ – die Aufführungen
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Freitag, 5. September, 19.30 Uhr
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Samstag, 6. September, 19.30 Uhr
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Sonntag, 7. September, 16 Uhr
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Samstag, 13. September, 19.30 Uhr
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Sonntag, 14. September, 19.30 Uhr
jeweils mit Simultanübersetzung, auf der Pfarrwiese Crostwitz
Karten an der Abendkasse und online: www.posol.de/pasion-2025