"Das Ethik-Eck": Darf der Opa der Enkelin vom Einsatz abraten?

Auslandseinsatz und Kriegserfahrung

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Die Frage lautet diesmal: „Ich weiß, was es heißt, im Krieg Soldat zu sein. Jetzt will meine Enkelin sich freiwillig für einen Auslandseinsatz der Bundeswehr melden. Darf ich ihr davon abraten?“


Ein echter Rat
Krieg, Gewalt und Tod sind furchtbar. Was wir in der Ukraine erleben, mitbekommen und über Freunde hören, beschäftigt uns. Ein emotionales Thema – ganz besonders für den Großvater. Was macht einen Rat aus? Was unterscheidet ihn von einem Vorschlag, einer Empfehlung, einem Verbot oder einem Wunsch?
Ein Ratschlag ist 1) unverbindlich, 2) speist sich meist aus eigenen Erfahrungen und achtet 3) die Entscheidungsfreiheit und 4) die Situation des anderen. Auf diese Weise Rat zu geben, ist – gerade in Sorge um einen lieben Menschen – in Ordnung:  
1) Ist der Rat des Großvaters unverbindlich? Ist er bereit, auch eine Entscheidung gegen seinen Rat zu akzeptieren?
2) Es ist sehr verständlich, dass der Großvater von der Entscheidung der Enkelin irritiert ist. Wer weiß, welche Erlebnisse ihn – vermutlich im Zweiten Weltkrieg – geprägt haben. Es ergibt Sinn, dass die Wörter „Einsatz“ und „Soldat“ bei dem Großvater andere Bilder auslösen als bei der Enkelin. Es ist für einen Rat nicht nötig oder hilfreich, die eigenen Erfahrungen zu verdrängen oder zu verschweigen.
3) Möchte er seiner Enkelin zu einer möglichst guten Entscheidung für sie beistehen – oder seine eigene Sicht „durchbringen“? Achtet er die Entscheidungshoheit seiner Enkelin für ihre Zukunft und Lebenswege?
4) Der wahrscheinlich unfreiwillige Einsatz des Großvaters als junger Mann in einem schlimmen Vernichtungskrieg ist nicht vergleichbar mit einem heutigen nach Völkerrecht rechtmäßigem Auslandseinsatz einer demokratischen Armee. Offensichtlich ist der Gedanke, sich für einen Einsatz zu melden,
in der Enkelin gereift und geblieben. Es ist anzunehmen, dass sie sich mit den schwierigen, aber relevanten Fragen auseinandergesetzt hat: Wie geht sie mit Gewalt und Tod um? Würde sie, um sich und andere zu schützen, auf andere Menschen schießen? Ist sie bereit, ihre seelische und körperliche Gesundheit zu gefährden?
Die Sorge des Großvaters macht deutlich, wie kostbar die Enkelin für ihn ist. Ihre Entscheidung ist wahrscheinlich aus guten Überlegungen und Gründen entstanden. Im gemeinsamen Gespräch wird es wichtig sein, verstehen lernen zu wollen, was den anderen bewegt, denn beide wollen „das Beste“ für die Enkelin.

Bernadette Wahl
hat Theologie und Religionspädagogik studiert, ist systemische Beraterin und arbeitet für das Bistum Fulda in der Citypastoral.

 

Es geht um die Seele
Als die Fragen für das Ethik-Eck formuliert wurden, konnte kaum einer sich vorstellen, dass die Fragen um Krieg und Soldateneinsätze uns so nahe rücken könnten, wie inzwischen geschehen.
Und für viele, besonders die Älteren, gibt es die Erinnerungsspuren an Krieg und Nachkriegszeit, die jetzt wieder lebendiger werden. Ja – es ist lange her und nein, seelisch ist es heute.
Tatsächlich erleben Ange-hörige, dass die demente Oma wieder in die Ängste gerät von damals, die ein halbes Leben tief in ihr verborgen steckten. Nicht nur Therapeuten wissen, dass die Erfahrungen von damals ungeheure Macht haben und über die Generationen weitergegeben werden. Dass viele Deformationen, die Menschen damals erlebt haben, bis heute wirken.
Krieg teilt notwendig in Verbündete und Gegner, Freund und Feind. Wo es Feinde gibt, wird Hass gesät. Und Hass ist ein Gift, dass die Seele gründlich vergiften kann.
Nach dem letzten Krieg dauerte es in Europa lange, bis die Schäden beseitigt waren, die Häuser wieder standen, das Leben wieder seinen Gang ging. Die seelischen Wunden heilten noch viel langsamer, manche blieben dauerhaft. Versöhnung zwischen Gruppen und Völkern ist eine mühsame Arbeit. Schuld bleibt, Vergebung ist kostbar.
Ein Auslandseinsatz ist kein Krieg. Er kann die Soldaten allerdings in unerwartete und extreme Situationen führen. Er soll idealerweise ein Einsatz sein, der eher Kämpfe neutralisiert, Entspannung und politische Lösungen vorbereitet. Er kann aber auch jederzeit verstörende Erfahrungen mit sich bringen. Gewalt wird erlebt, Verletzungen und Tod sind möglich.
Es lohnt sich also in jedem Fall, miteinander zu sprechen.
Dass die Enkelin erklärt, warum sie Soldatin ist, was sie an dem Auftrag reizt, was  sie erleben möchte, welche Ideale sie hat. Welche Vorstellungen sie leiten: Abenteuer, Kameradschaft, etwas beitragen zu einer größeren Idee, Sehnsucht, etwas Bedeutsames zu tun.
Und es ist wichtig, dass der Großvater erzählt, was er erlebt hat und was ihn bis heute bewegt. Vor was er Angst hat, was er befürchtet. Was er für seine Enkelin wünscht. Wie er die großen Fragen von Krieg und Frieden sieht.
Es gibt da kein Richtig und Falsch. Berechtigte sachliche Argumente lassen sich für beides finden.
Es geht um die Seele. Wann sie Schaden nehmen kann. Wie man sie schützt. Für was man sich engagieren kann und soll. Welche Art Leben sich beide vorstellen und wünschen.

Ruth Bornhofen-Wentzel
war Leiterin der Ehe- und Sexualberatung im Haus der Volksarbeit in Frankfurt.

 

Verlangt viel Vorsicht
Werte leuchten durch Erfahrungen ein – mit dieser einprägsamen Formulierung beschrieb der Philosoph Richard Schaeffler einmal die Bedeutung von Erfahrungen für unsere Erkenntnis des
Guten oder Schlechten.
Wirklich zu wissen, was es heißt, im Krieg Soldat zu sein, ist etwas, das sich erst durch eigene Erfahrungen erschließt. Wie menschlich abgründig und negativ Erfahrungen in Kriegssituationen sind, spüren viele Menschen in der Ukraine seit dem Februar dieses Jahres am eigenen Leibe. Wir können kaum ermessen, wie groß dieses Leid ist, wenn wir nicht selbst Ähnliches erfahren haben. Daher treffen bei uns die Bilder diejenigen mit besonderer Wucht, die zum Beispiel in ihrer Kindheit noch den Zweiten Weltkrieg erlebt haben oder vor Bürgerkriegen geflohen sind.
Sich für einen Auslandseinsatz der Bundeswehr zu entschließen, ist alles andere als eine Entscheidung, die leichthin zu treffen ist. Vollumfänglich zu erfassen, was ein solcher Einsatz bedeuten kann, ist vermutlich im Vorfeld nicht möglich. Da Erzählungen Erfahrungen transportieren können, ist ein Gespräch mit jemandem, der in seinem Leben Krieg erlebt hat, durch nichts zu ersetzen. Daher leuchtet es unmittelbar ein, mit der Enkelin über die eigenen Erfahrungen sprechen zu wollen.
Sich gut zu beraten, bevor man sich freiwillig für einen Auslandseinsatz meldet, ist angesichts der damit verbundenen Gefahren ein Gebot der Sorge um sich selbst und um die eigenen Angehörigen. Dazu zählt, sich vor Augen zu führen, um was für eine Art von Auslandseinsatz es sich handelt. Geht es um eine Friedensmission oder um einen ausdrücklichen Kampfeinsatz? In welcher militärischen Funktion würde man daran teilnehmen? Dass die Bundeswehr keinen Freiwilligen rücksichtslos in einen Krieg schickt, davon kann man ausgehen.
Zugleich gilt: Lässt sich das, was mit einem Auslandseinsatz im Jahr 2022 verbunden sein kann, mit den eigenen Erfahrungen vergleichen? Bevor man einem anderen Menschen von einem Tun abrät, ist gründlich zu überlegen, ob man dessen Lebenssituation damit gerecht wird. Sonst gleitet es in eine Bevormundung ab, die die eigenen Erfahrungen verabsolutieren würde. Unsere negativen oder positiven Erfahrungen sind nicht automatisch die negativen oder positiven Erfahrungen der anderen. Der Enkelin von einem Auslandseinsatz abzuraten, ist ein starkes moralisches Instrument, dessen Einsatz viel Vorsicht verlangt.

Stephan Goertz
Professor für Moraltheologie an der Universität Mainz.