Eine persönliche Geschichte von Überhöhung, Irritation und Verantwortung
Brauchen wir die Lübecker Märtyrer heute noch?

Foto: Mariana Soldak
2018 hat das Erzbistum Hamburg diese Ikone für die Märtyrer in Auftrag gegeben, die Mariana Soldak in Lviv/Lemberg in der Ukraine geschrieben hat.
„Heilige, Selige, Märtyrer – was soll das sein?“, frage ich mich, während ich im Osnabrücker Dom nach einer Ausstellung suche. Sie behandelt die Lebensgeschichten von vier Männern, von deren Existenz ich bis vor Kurzem nichts wusste. „Lübecker Märtyrer?“ Nie gehört. Vielleicht liegt es daran, dass ich aus dem Süden komme, weit weg von der Region, in der die Vier verehrt werden. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich als Protestantin wenig Anknüpfungspunkte zu Heiligen und Seligen habe. Ich gebe zu: Bisher konnte ich mit der Thematik kaum etwas anfangen.

Eine Menschentraube sucht unter dem Haupttor des Doms Schutz vor dem Regen. „Wissen sie, wo ich die Ausstellung zu den Märtyrern finde?“, frage ich. „Was für eine Ausstellung? Was für Märtyrer?“, ist die Gegenfrage. Fast will ich schon wieder gehen, denke, ich sei falsch. Doch dann sagt jemand: „Ganz hinten rechts, vorbei an den Bänken, durch das kleine Tor am Choreingang.“
Dort, im sogenannten Chorumgang und fast versteckt, finde ich die großen Aufsteller zu den Lübecker Märtyrern – und Wilfried Sondermann. Er ist ein Experte auf dem Gebiet und bereit, mir meine Fragen zu beantworten. Seit langer Zeit engagiert er sich im Arbeitskreis der Lübecker Märtyrer in der Pfarrei Christus-König in Osnabrück-Haste.
Zusammen gehen wir beide die wenigen Meter der Ausstellung ab, die an die vier Männer erinnert, die 1943 in Hamburg von den Nationalsozialisten festgenommen wurden, zusammen mit 18 Laien aus ihrem Umfeld. Kurze Zeit später, am 10. November 1943, wurden die vier Männer hingerichtet. Drei katholische Kapläne, ein evangelischer Pastor. Mit der Guillotine. Im Abstand von wenigen Minuten. Ihr Verbrechen? Sie hatten gewagt, sich dem NS-Regime zu widersetzen.

Mit Worten, Menschlichkeit und indem sie an ihrem Glauben festhielten, nach ihm lebten. Die vier Theologen hatten sich gegen die Kranken- und Behindertenmorde der Nationalsozialisten ausgesprochen und verbreiteten systemkritische Predigten des Bischofs von Galen.
Kurz: Sie mussten sterben, weil sie „Mut zu Wahrheit hatten“. Worte, die auf einen der drei katholischen Kapläne Johannes Prassek zurückgehen, ein Leitspruch seines Handelns waren. Sondermann und ich gehen an den großen Tafeln entlang – wenige Meter, viel Text.
Sie waren Menschen mit Zweifeln und Ängsten
Ich lese die Lebensläufe, sehe die Gesichter dieser Männer, halte inne. Plötzlich sind diese schwarz-weißen Gesichter keine abstrakten Gestalten, keine fremden Namen mehr für mich. Sie sehen aus wie ganz normale Menschen. Es waren Menschen wie ich. Mit Zweifeln und Ängsten. Doch sie hatten vor allem Mut. Das fasziniert mich. Warum muss man sie aber als Märtyrer und Selige verehren? Warum wünschen sich viele, dass sie sogar heiliggesprochen werden? Ich muss zugeben: Ich finde das alles etwas befremdlich. Das ist ein Thema, das für mich nach frühem Christentum und längst vergangenen Zeiten klingt.

Trotzdem: Menschen werden noch heute zu Märtyrern. Die deutschen Katholiken listen ihre 1000 im „Martyrologium Germanicum“ auf. Mit jeder Auflage werden es mehr. Inzwischen liegt das Verzeichnis in achter Auflage vor – 81 neue Lebensbilder kamen in dieser dazu. Auch die Protestanten haben ihre Märtyrer: etwa 500. Sie werden in „Ihr Ende schaut an ...“ gewürdigt, das 2006 erschien. Das Thema? Doch nicht so vergangen, wie ich bisher dachte. Und auch die Lübecker Märtyrer – Märtyrer der Moderne.
Sondermann erzählt, dass die drei katholischen Kapläne 2011 seliggesprochen wurden, dem evangelischen Pastor wurde ehrend gedacht. Kurz bin ich verwirrt. Ob 2011 nicht ein bisschen spät sei, frage ich Sondermann. „Ich sage es mal so“, setzt er an, „das Verhalten der drei katholischen Priester ist natürlich auch eine Kritik an ihren damaligen Kurskollegen gewesen.“
Eine Würdigung des Widerstands – von allen vieren – wäre mit kritischen Fragen verbunden gewesen. Etwa: „Seid ihr mitgeschwommen oder habt ihr euch gegen die Gräuel des NS-Regimes klar positioniert?“, sagt Sondermann. Damals hatten die Kirchen, katholische und evangelische, wohl noch nicht den „Mut zur Wahrheit“, denke ich.

Deutlich wird im Gespräch mit Sondermann: Die Lübecker forderten heraus, forderten auf, Verantwortung zu übernehmen: Es geht um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Die Lübecker fordern noch heute heraus. „Möchten Sie denn das Andenken der Lübecker Märtyrer kaputt machen?“, musste sich etwa der Wissenschaftler Sebastian Holzbrecher nach Veröffentlichung eines Presseberichts zu seinen Arbeiten über die Lübecker Märtyrer anhören.
Falsche Bilder im Kopf
Gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur hatte Holzbrecher die „aus einem Blickwinkel der tiefen Verehrung heraus“ getroffene Annahme in Frage gestellt, wonach die Geistlichen „vorrangig Opfer der nationalsozialistischen Propaganda waren und letztlich für ihr seelsorgliches Wirken“ bestraft worden seien. Prozessakten und kirchliche Quellen belegten wohl, dass etwa Kaplan Prassek die falsche Behauptung verbreitet habe, wonach kriegsversehrte Soldaten fürchten müssten, umgebracht zu werden.
Das war strafbar und später wohl ein Punkt in der Anklage, wie Holzbrecher in einem Vortrag in Lübeck im Februar dieses Jahres erzählte. Auch mich fordern die Lübecker heraus: Ich verstehe, dass ihr mutiges Handeln Vorbildcharakter hat, dass man sich ihrer erinnern sollte. Doch der Märtyrerbegriff – er irritiert mich, löst ein Störgefühl aus. Er klingt nach Überhöhung, Heiligenverehrung, Ritualen, die mir fremd sind. Dieses Unwohlsein gründet vielleicht darin, dass das Wort „Märtyrer“ Bilder in meinem Kopf entstehen lässt, die wenig mit Kirche zu tun haben.

Bilder vom 11. September 2001. Bilder vom Attentäter Anders B., der auf der norwegischen Ferieninsel Utøya unzählige Jugendliche ermordet hatte. Sein Verbrechen verstand Anders B. als Tat eines Märtyrers: Er berief sich auf die für das Verständnis von Märtyrern eigentlich so wichtigen Idee der „Militia Christi“. Das ist eine Lehre, die auf Paulus zurückgeht und die Lehre vom Kampf der Christenheit für das Reich Christi meint.
Dass diese Menschen keine Märtyrer sind – selbstverständlich. Sich selbst zum Märtyrer erheben? Unmöglich. Zum Märtyrer machen einen andere Menschen. Die höchste Ehre für den, der aufgrund seiner christliche Überzeugung sterben musste. Wie Holzbrecher jedoch zeigt, waren die Lübecker nur Menschen.
Sie hatten Fehler, waren nicht perfekt. Ich frage mich: Kann es nicht sein, dass diese vier Männer auf ein Podest gestellt wurden, das sie selbst gar nicht betreten hätten? Birgt es nicht auch Gefahren, die Erinnerung an Tote für politische oder religiöse Zwecke zu vereinnahmen? Für mich klingt das nach Instrumentalisierung. Und das kann, so finde ich, den Blick auf die verstellen, die hinter dem Titel „Märtyrer“ stehen – mit all ihren Schwächen, die sie letztlich erst menschlich machten.
„Nur erinnern reicht nicht. Die Erinnerung muss lebendig ins Heute geholt werden.“
Ich sehe das Märtyrertum kritisch, als Überhöhung – Sondermann sieht das anders. Ein Problem bei einer solchen Verehrung entstehe nur, wenn aus ihr keine Konsequenz folge, das Symbol der Erinnerung nicht zum Handeln anrege. „Das ist das Wichtige.“ Erinnerung reicht nicht, sie muss „lebendig ins Heute geholt werden“, sich in die Zukunft richten. Es sei wie mit dem Glauben. Sondermann sagt: „Ihn entweder nur im stillen Kämmerlein oder ausschließlich laut und für alle hörbar zu leben, macht für mich keinen Sinn.“

Wir verlassen die Ausstellung, vorbei an wenigen Menschen im Dom. Wer welt- und gesprächsfähig bleiben wolle, müsse Position beziehen, so Sondermann. „Jeder Einzelne, auch die Kirche.“ Position beziehen – wie die Lübecker. Vielleicht braucht es dafür dieses Störgefühl, das sie hervorrufen. Es zeigt: Sie waren Menschen, keine abstrakten Symbole. Menschen, die mutig für Gerechtigkeit einstanden; über Konfessionsgrenzen hinweg. Diese Menschen braucht es gerade heute, wo Hetze und Populismus wieder Platz in Politik und Gesellschaft einnehmen. Hier können die Märtyrer Vorbild sein – als Menschen, für Menschen.
Hintergrund

10. November 1943
Die katholischen Priester Johannes Prassek, Hermann Lange, Eduard Müller und der evangelische Pastor Karl Friedrich Stellbrink wurden von den Nazis hingerichtet.
25. Juni 2011
Die drei katholischen Priester wurden seliggesprochen, dem evangelischen Pastor wurde ehrend gedacht. Darum ist der 25. Juni ihr Gedenktag im katholischen Kalender.
Die Wanderausstellung
zu den Lübeckern war zuletzt im Osnabrücker Dom aufgebaut. Ab dem 23. Juni ist sie in Hagen am Teutoburger Wald zu sehen. Mehr Infos finden Sie hier.