Die Laudes online beten – geht das?

Der Tag muss auch in uns geboren werden

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Die Laudes zum Sonnenaufgang, das Mittagsgebet zur sechsten Stunde, die Vesper am Abend und die Komplet als Gebet zur Nacht. Das sind die bekanntesten Stundengebete. Das Stundengebet ist Gottesdienst der Kirche und ein Schatz für das persönliche Gebet. Nie war es so leicht, diesen Schatz wieder zu entdecken. 

Bruder Gaudentius Sauermann beim lesen der Laudes im Internet
Bruder Gaudentius Sauermann zeigt, wie man die Laudes heute auch beten kann – online am Bildschirm.  Foto: Andreas Hüser

Wie man das Stundengebet angeht, weiß aber immer noch am besten ein Mönch: Pater Gaudentius Sauermann (87) betet die Stundengebete seit 70 Jahren. 1949 ist er mit 19 Jahren ins Kloster Maria Laach eingetreten. Heute gehört er dem Benediktinerkloster Nütschau in Schleswig-Holstein an. 

Sie sind seit vielen Jahren als geistlicher Begleiter tätig. Haben Menschen von heute ein Interesse an Laudes oder Komplet, an uralten Hymnen, Antiphonen, Psalmen und anderen Bibeltexten? Können wir so etwas überhaupt noch? 

Ja, es sind Welten, die da zusammenstoßen. Wir sind ja heute außer Puste. Die Schnelligkeit und die Rotation der Tage hat, ohne dass wir es merken, das menschliche Maß überschritten und hinter sich gelassen. Wenn Menschen unvorbereitet in unser Kloster kommen, müssen sie erst einmal zur Ruhe kommen. Es kommt aber auch vor, dass ganze Schulklassen alle Gebetszeiten über sich ergehen lassen. Es macht offenbar Eindruck auf sie. 

Für Sie fängt der Tag mit den Laudes an. Mit den immer gleichen Worten „O Gott, komm mir zu Hilfe! Herr, eile mir zu helfen!“ 

In diesen ersten beiden Versen ist schon alles drin, die Essenz des Gebets. Es ist das Kurzgebet der Wüstenväter. Diese Einsiedler und Mönche haben zum Teil nichts anderes gebetet als das: Gott, komm mir zu Hilfe! Damit haben Sie den ganzen Tag verbracht. 

Das ist ja ein Hilferuf. Wozu brauchten diese Männer Gottes Hilfe? 

Sie haben entdeckt: Allein schaffe ich es nicht. Aber in mir ist eine Kraft, die versucht zum Leben zu kommen und die mir hilft, das Leben nicht zu verlieren. Ich habe aber diese Kraft nicht selber. Viele Menschen leben in der überheblichen Haltung, sie hätten alles. Die Wüstenväter hatten diese Überheblichkeit nicht. Sie wussten: Ich muss jeden Tag wieder neu und ganz unten anfangen. Ich kann mich auch nicht so einfach hinsetzen und beten. Deshalb steht am Anfang die Bitte: O Gott, komm mir zur Hilfe! 

Sie selbst sind ja kein Wüstenvater. Können Sie sich erinnern, wie Sie einmal angefangen haben als Beter der Laudes? 

Ich war 19 Jahre alt, ich war ahnungslos, aber voller Liebe und Begeisterung. Wir wurden damals jeden Morgen um 4.30 Uhr geweckt, dann kam das Nachtgebet, die Matutin. Das ist 70 Jahre her. Trotzdem sehe ich mich immer noch am Anfang. Gott kommt auf mich zu. Und ich merke: Ich müsste langsam anfangen. 

Die Texte kehren ja immer wieder. Können Sie sich nach all den Jahren immer noch auf sie konzentrieren? 

Nein. Du kannst nicht alles aufnehmen. Du musst auch nicht alles verstehen. Nimm das auf, was du kannst, sonst gehe weiter. Ob ich voll dabei bin oder nicht – ich mache es, wie ich es gerade kann. Das Gebet, das man unaufmerksam oder müde betet, soll man auch nicht verachten. Es ist ja nicht nur mein Gebet, ich bete es mit der ganzen Kirche. 

Bei den Laudes um sechs Uhr sind sicherlich noch einige Beter müde. Der Tag hat eigentlich noch gar nicht angefangen. 

Der Tag muss auch in mir geboren werden. Was geschieht bei der Geburt eines Kindes? Das Kind kommt aus der Ruhe des Mutterschoßes, wo es mit dem Blutkreislauf der Mutter verbunden war, in diese kalte Atmosphäre draußen. Es bekommt keine Luft. Dann der erste Schrei, mit dem das Atmen beginnt. Im Glauben drückt sich ein Urvertrauen aus: Ich bin ein gewolltes Kind. Eine Voraussetzung des Gebets ist, dass ich das Geheimnis des Lebens ahne, dass ich begreife: Es ist ein Wunder, dass ich lebe. Und an jedem Tag ist es so wie im Schöpfungsbericht: Gott haucht mir den Atem des Lebens ein. 

Machen Sie sich das jeden Morgen wieder bewusst? 

Nein, überhaupt nicht. Oft komme ich auch zu spät. Das ist aber nicht schlimm. Ich freue mich, wenn ich wirklich mitbeten kann. 

Nach den ersten Versen der Laudes kommt das „Ehre sei dem Vater…“ 

Diese Worte müssten eigentlich in goldenen Buchstaben zu sehen sein. Es ist gut, wenn ich mich dabei verneige. Nicht um mich kleiner zu machen als ich bin. Wenn ich die Dreifaltigkeit ehre, drücke ich damit auch aus: Gott ist wirklich mein Vater. Ich bin sein Sohn und Bruder seines Sohnes, erfüllt vom Heiligen Geist. 

Nach diesen Worten kommt ein Lied, der Hymnus. Wunderbare, tiefe und gehaltvolle Lieder. Man sieht aber nicht, wer sie geschrieben hat. 

Einige der Hymnen im Stundengebet sind sehr alt, es sind zum Beispiel die alten Hymnen des Ambrosius. Es gibt aber auch neue. Wichtig ist, dass wir sie singen, nicht nur sprechen. Durch die heutige Technik sind wir ja vor allem zu Hörern geworden. Wir singen nicht mehr selbst. Das können wir hier tun. 

Es folgt der erste Psalm. Ist es nicht erstaunlich, dass die meisten Texte der Stundengebete aus dem Alten Testament kommen? Warum haben die Christen nicht neue Gebete benutzt, die sich ausdrücklich auf Christus beziehen? 

Unsere ganze Gebetsweise ist voll übernommen aus der Tradition des Bundes Gottes vom Sinai. Jesus hat die Psalmen und die Gebete Israels gebetet. Ich stelle mir vor, wie Jesus von seinem Vater gelernt hat, die Psalmen zu beten. Auch wenn wir heute beten, steht im Hintergrund die Erfahrung des ganzen Volkes Gottes. Zu dieser Erfahrung gehört die Entfremdung des Volkes von Gott, die Zerstörung Jerusalems, die Verschleppung nach Babylon, und dann das Erleben des Heils: Der Herr baut das zerstörte Haus wieder auf. 

Erfahrungen, die sich auf die Gegenwart übertragen lassen, auch auf Deutschland? 

Ja. Der Herr baut wieder auf. Wir wissen ja gar nicht mehr, welches Geschenk wir in den vergangenen 70 Jahren erfahren haben. Die Generation, die jetzt aufwächst, ist die erste, die im Frieden neu und frei anfangen darf, ohne die Belastungen, die frühere Generationen hatten. Das Leben wird uns neu geschenkt, wenn auch unter großen Mühen. Das ist das, wovon die Psalmen und die Propheten reden. 

Kann ich mich dabei selbst angesprochen fühlen? 

Ja, das Schicksal des Gottesvolkes ist auch meine Geschichte. Ich bin zum Leben gerettet. Auch ich bin der Sklaverei Ägyptens entronnen. Unser Glaube hat immer diesen ganzheitlichen Blick des Volkes Israel. Wir gehören alle zusammen. Niemand wäre da, wenn nicht die anderen da gewesen wären. 

Gerade in den Laudes gibt es nicht nur „Morgenlob“, sondern viele Psalmen und Prophetentexte, die Klage ausdrücken. 

Ich sollte mit dem Beten nicht erst anfangen, wenn es mir schlecht geht. Aber wenn es mir schlecht geht, darf ich wie ein Kind schreien. Eine Mutter kann erkennen, wenn ihr Kind leidet. Und eine Mutter ist nicht beleidigt durch das Schreien ihres Kindes. Gott auch nicht. 

Eine Brücke zwischen altem und neuen Bund schlägt, ziemlich am Ende der Laudes, der Lobgesang des Zacharias, des Vaters Johannes des Täufers: „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels!“

Das Benedictus ist der Lobpreis, der alles zusammenfasst. Dieses Lob spricht vom göttlichen Licht: „Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe“. Beim Sonnenaufgang machen wir uns deutlich: Der Mensch wird durch das Licht belebt. Er antwortet mit dem Lobpreis für das geschenkte Leben. Wir müssen das Benedictus zusammen mit dem anderen großen Lobpreis sehen, dem Lob Mariens im Magnificat. 

Das Magnificat beschließt ja das Abendgebet, die Vesper. 

Ja, beide Lobgesänge bilden eine Klammer im Gebet eines Tages. Der Tag ruht ja auf zwei Säulen: Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Bedenken Sie auch die beiden Personen: Maria, die ihr Lob im Magnificat spricht, und Zacharias. Diese beiden sind das ganze Volk. In beiden Gebeten kommt die Heilsgeschichte des Volkes Israels zur Sprache, es ist ein Lob Gottes anhand des gesamten Werkes der Erlösung. 

Diese Lobgesänge erinnern ja sehr an die Psalmen. So als hätten die „Autoren“ nur aus alten Gebeten zitiert. 

Wir beten ja nie individuell und für uns allein. Wenn wir beten, sind wir in einem Kontext. Wir beten zusammen mit Maria, der Mutter der Kirche, die uns hilft. Und nicht nur das liturgische Gebet, das ja in der ganzen Welt gebetet wird – auch das persönliche Gebet ist nie isoliert. Wir beten immer auch als betende Kirche. Kontakt: www.kloster-nuetschau.de

Text u. Foto: Andreas Hüser