"Gefragte Frauen": Claudia Schmidt
Die Frau, die weite Wege geht
Claudia Schmidt ist zwischen ihrem vierten und achten Lebensjahr von einem katholischen Priester missbraucht worden. Heute setzt sie sich für Betroffene von sexualisierter Gewalt ein. Was sie erlebt hat, soll niemand mehr erleben. Von Ruth Lehnen
Claudia Schmidt hat viele Jahre lang gehasst. Sie hat sich selbst gehasst, „weil es mir passiert ist“. Sie hat den Täter gehasst. Sie hat ihre Eltern gehasst. Sie hat Gott gehasst. Aber die Zeit des Hasses ist vorbei. Heute sagt Claudia Schmidt: „Der Missbrauch gehört zu mir. Er ist mir passiert. Aber er ist nicht meine Zukunft.“
Claudia Schmidt, Westerwälderin, ist in den letzten Jahren weite Wege gegangen. Im wörtlichen Sinn – allein in den vergangenen Monaten hat sie 2000 Kilometer auf dem Jakobsweg zurückgelegt. Und im übertragenen Sinn. Sie sagt: „Ich verarbeite meine Vergangenheit.“ Schmidt ist Betroffene von schwerem sexuellen Missbrauch. Ein katholischer Priester hat ihr das angetan. Er wurde schon übergriffig, als er zum ersten Mal ins Haus ihrer Eltern kam. Die kleine Claudia wehrte sich, aber ihre Eltern glaubten ihr nicht, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Die Eltern waren „Südländer“, sehr gläubig. Sie hielten Priester für geschlechtslos und rein und qua Amt für absolut vertrauenswürdig. Mittlerweile ist der frühere Priester verurteilt und aus dem Klerikerstand entlassen worden. Claudia Schmidt setzte 2016 eine Begegnung mit ihm durch. Er wollte ihr freudig die Hand schütteln, er bat nicht um Verzeihung. Ihm kann sie nicht vergeben. Aber sie sah einen alten gebrechlichen Mann vor sich. Er konnte ihr keine Angst mehr machen.
Als sie noch das kleine Mädchen gewesen war, dem keiner geglaubt hat, hatte er ihr mit Gott gedroht, falls sie es wagen würde etwas zu sagen. „Ich kannte nicht den lieben Gott“, sagt Schmidt. Sie kannte nur den bösen und strafenden Gott und hatte Angst vor ihm, Angst, bloßgestellt und gerichtet zu werden. Der Priester hatte sich nicht nur ihres Körpers, sondern auch ihrer Seele bemächtigt. Als sie acht Jahre war, war der Mann plötzlich weg. Er war versetzt worden.
Aus der kleinen Claudia wurde eine große. Sie ging zur Schule, wurde Krankenschwester. Die Taten waren in ihr wie in einer Schublade, die man niemals aufmacht. Aber manchmal sprang die Schublade auf wie von selbst. Dann musste sie viel Kraft aufwenden, um sie wieder zuzudrücken. Um zu „verdrängen“, wie es landläufig heißt. 2011 wurde die Westerwälderin Mutter. Auf einmal bekam sie „die Schublade“ nicht mehr zu. Alles war wieder da – als sie ihr unschuldiges Kind aufwachsen sah, wurde ihr klar, dass ein Kind immer unschuldig ist, und dass sie keinerlei Schuld an den Verbrechen trug, dass sie sich nicht zu schämen braucht. Es war ein Wendepunkt.
Die neue Stärke wechselt sich ab mit Schwäche und Trauer
Trauer, Wut, Schmerz und Tränen kamen hoch und wirbelten ihr Leben durcheinander. Sie wurde krank, konnte nicht mehr arbeiten, ihre Ehe wurde einer schweren Belastungsprobe unterworfen. Aber sie bekam auch Hilfe, zum Beispiel von Therapeuten. Schon im Jahr 2012 hat Claudia Schmidt Kontakt zum Bistum Limburg aufgenommen. Stationen ihres schwierigen Wegs: Sie traf die damaligen Personalverantwortlichen, die den Täter trotz Wissens um seine Vorgeschichte hatten machen lassen. Sie begann, über ihre Geschichte zu sprechen. Sie beantragte und bekam eine Zahlung zur Anerkennung des erlittenen Leids von der Kirche. In ihrem erlernten Beruf kann sie zur Zeit nicht arbeiten – das Geld hilft ihr vorerst, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie sagt: „Ich würde fast alles dafür geben, dass mir das nicht passiert wäre – dass ich diesen Antrag nicht hätte stellen müssen.“ Aber sie kann die Zeit nicht zurückdrehen. Das Geld macht nichts gut, es macht es nicht leichter, mit dem, was ihr angetan wurde, zu leben. Aber es bedeutet doch viel für Claudia Schmidt: „Ich bin gesehen worden.“ Was sie erlebt hat, ist angehört und geglaubt worden.
Träumt sie nicht davon, alles hinter sich zu lassen? Ein ganz neues Leben zu beginnen? Vielleicht. Aber die Seele funktioniert so nicht. Nicht auf Knopfdruck. Es tut sich was in Claudia Schmidts Leben, aber die Lage ist schwankend, unsicher. Die neue Stärke wechselt mit Schwäche und Untröstlichkeit ab.
Sie hat begonnen, sich für Betroffene zu engagieren. Heute ist sie Mitglied in den Betroffenenbeiräten der Deutschen Bischofskonferenz und der Bistümer Fulda, Limburg und Mainz. Sie ist Mitglied der Aufarbeitungskommission im Bistum Limburg und berät Bischöfe und andere beim Synodalen Weg. Sie sieht ihre Aufgabe klar vor sich. Ihrem Sohn hat sie es so erklärt: Der Mama ist als Kind etwas Schlimmes passiert, und nun kämpft sie dafür, dass es anderen Kindern nicht auch passiert. Ihre Forderungen ergeben sich aus ihren eigenen Erfahrungen: „Es braucht ein ganzes Dorf, um Missbrauch zuzulassen.“ Und so brauche es auch ein ganzes Dorf, um Missbrauch zu bekämpfen und Kinder zu schützen. Es brauche Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, zuzuhören.
Immer noch zum Schweigen aufgefordert
Noch immer erlebt Schmidt, dass sie, an der die Verbrechen begangen wurden, zum Schweigen aufgefordert wird: „Du hast doch einen Sohn!“ Sie fühlt sich stigmatisiert – ausgesondert, noch immer, weil Menschen weder nachfragen noch zuhören wollen. Manchmal auch aus Ungeschicklichkeit, Schüchternheit, der Sorge, etwas falsch zu machen oder zu sagen. Sie ist aber nicht mehr das Kind, sondern eine erwachsene Frau, die heute selbst entscheiden kann, wem und wie und wie weit sie ihre Geschichte erzählt.
Sie ist in den Kommissionen und Beiräten die Einzige mit Migrationshintergrund und die Einzige ohne höheren Bildungsabschluss. Sie wird nicht nachgeben, bis Dokumente und Aufrufe verständlich formuliert werden, bis die „Aufarbeitung“ alle Menschen erreicht. Denn die Täter gehen gern dorthin, wo Menschen besonders zu kämpfen haben, zu armen Menschen oder solchen, die sich schwer verständigen können.
Vom Bistum Limburg hat Claudia Schmidt immer wieder Hilfe und Unterstützung erfahren, aber auch hier sind schwerwiegende Fehler passiert im Umgang mit der Betroffenen. Geheime Akten wurden weitergegeben, nicht anonymisiert, und ihre Geschichte wurde ohne ihr Wissen und Einverständnis in der Paulskirche ausgebreitet. Schmidt hat ein feines Gespür entwickelt für Entschuldigungen, die auf dem Fuß folgten: War das nun eine persönliche oder eine nur pflichtschuldige Entschuldigung? Folgt ihr eine Verhaltensänderung? Dabei ist die Westerwälderin freundlich und langmütig. Sie gibt der Kirche immer wieder Kredit, glaubt an Veränderungen. Manche Betroffene führten Krieg gegen die katholische Kirche, sagt Schmidt. Sie gehört nicht dazu.
Im Prozess der Aufarbeitung hat sie sich verändert, ihr Glaube hat sich verändert. Der strafende Gott ist verschwunden. Sie hat angefangen, sich selbst anzunehmen, hat ihrer Mutter verziehen und der Kirche viele Male. Auf dem Jakobsweg hat sie gelernt, dass kleine Wunder passieren können. Manchmal hat sie Kraft zum Weitergehen bekommen, als sie meinte, sie könne keinen weiteren Schritt mehr tun. Ihr Weg ist noch weit.
Von Ruth Lehnen
GEFRAGT GESAGT
In der Rubrik „Gefragt ... gesagt“ geben die „gefragten Frauen“ möglichst spontan Antworten.
Durch wen sind Sie zum Glauben gekommen?
Claudia Schmidt: Neu durch zwei Gemeindepriester, die sehr geduldig waren und mich aufmerksam gemacht haben auf kleine Zeichen, die Gott einem schenkt.
Was gibt Ihnen Ihr Glaube?
Hoffnung.
Haben Sie schon mal daran gedacht, aus der Kirche auszutreten?
Die Überlegung kommt immer wieder. Ich stelle mir diese Frage regelmäßig.
Welche Veränderung wollen Sie in der Kirche noch erleben?
Die Entstigmatisierung der Betroffenen. Und dass keine anderen Kinder mehr zum Opfer werden. Dass alle genauer hinschauen.
Welches war Ihr schönstes Erlebnis im Glauben?
Das sind die Begegnungen auf dem Jakobsweg. Oft kleine Gesten, oft ohne Worte. Einmal habe ich beim Gehen geweint, und jemand hatte den Mut, mir die Tränen wegzuwischen, ohne Worte.
Welche ist Ihre liebste Bibelstelle?
„Des Menschen Herz plant seinen Weg, aber Gott lenkt seinen Schritt.“ (Sprichwörter, 16,9)
Ihr Rat an Betroffene?
Habt den Mut, darüber zu reden.
ZUR SACHE
Der gemeinsame Betroffenenbeirat
Claudia Schmidt ist im Vorstand des gemeinsamen Betroffenenbeirats der Bistümer Fulda, Limburg und Mainz.
-Die Vertreter und Vertreterinnen des Betroffenenbeirats wurden nach einer „Bewerbung“ ausgewählt.
-Die Vertreterinnen und Vertreter der Betroffenen entsenden Mitglieder in die drei Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen der Bistümer Fulda, Limburg und Mainz.
Fulda: https://www.hinsehen-handelnbistum-fulda.de/bistum_fulda/hinsehenhandeln/index.php
Limburg: https://gegen-missbrauch.bistumlimburg.de/
Mainz: https://bistummainz.de/organisation/sexualisierte-gewalt/index.html
ZUR PERSON
Claudia Schmidt, aktiv im Kampf gegen Missbrauch
- Claudia Schmidt wurde 1982 im Westerwald geboren.
- Von 1986 bis 1990 wurde sie von einem Priester aus dem Bistum Würzburg, der ins Bistum Limburg versetzt worden war, schwer sexuell missbraucht.
- 1999 bis 2002 absolvierte Claudia Schmidt eine Ausbildung zur Krankenschwester.
- 2004 hat sie geheiratet und wurde 2011 Mutter.
- 2012 wandte sie sich erstmals an das Bistum Limburg, an den damaligen Missbrauchsbeauftragten Dr. Guido Amend.
- 2020 wurde sie berufen zur Mitarbeit in dem Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz DBK.
- 2021 wurde sie vom Betroffenenbeirat der DBK entsandt als Beobachterin im Synodalen Forum „Priesterliche Existenz von heute“ des Synodalen Wegs.
- Seit 2021 arbeitet sie mit an dem institutionellen Schutzkonzept der Familienbildungsstätte Montabaur.
- 2021 wurde sie berufen zur Mitarbeit im gemeinsamen Betroffenenbeirat der Bistümer Fulda, Limburg und Mainz, hier ist sie im Vorstand.
- 2022 wurde sie berufen zur Mitarbeit in der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Bistum Limburg.
- Claudia Schmidt hat eine Ausbildung zur Notfallseelsorgerin.
- Sie ist sehr gern auf dem Jakobsweg unterwegs und hat in den vergangenen Jahren Tausende Kilometer zu Fuß zurückgelegt.
Claudia Schmidt vom Betroffenenbeirat erreichen per E-Mail: c.schmidt@betroffenenbeirat-dbk.de