Minimalismus

Glück finden in der Leere

Frau sortiert Kleidung

Foto: istockphoto/Viktoriya Telminova

Kleidung aussortieren und auf wenige, hochwertige Lieblingsstücke setzen, das kann befreiend sein.

Nur besitzen, was man nutzt. Nur behalten, was langfristig gefällt: Minimalismus liegt im Trend. Aber sorgt er auch für mehr Zufriedenheit? Zwei Frauen haben sich auf diesen Lebensstil eingelassen – die eine in der Familie, die andere im Kloster.

Den Drang, beim Stadtbummel unbedingt etwas kaufen zu müssen, verspürt Birgitta Bolte schon lange nicht mehr. Schöne Dinge schaut sie sich gerne an – das schon. „Aber ich kann sie liegenlassen, weil ich weiß, dass wir zu Hause genug Sachen haben, die zu uns passen.“ Das sei kein schmerzhafter Verzicht, sondern eine bewusste Entscheidung, die sich sehr angenehm, ja, sogar befreiend anfühle.

Birgitta Bolte aus Rheine im nördlichen Münsterland hat sich bewusst für einen minimalistischen Lebensstil entschieden, der eine Alternative darstellt zur konsumorientierten Überflussgesellschaft. Möbel und Dekoration: hat sie reduziert. Plastik und Müll: vermeidet sie, so gut es geht. Kleidung: ist übersichtlich. „Ich muss zum Beispiel nicht zwischen 30 T-Shirts wählen, sondern da hängen vier bis fünf im Schrank, die alle Lieblingsstücke und gut kombinierbar sind.“ Nur an Büchern und Pflanzen spare sie nicht, sagt sie. Über ihre Erfahrungen berichtet die studierte Buchwissenschaftlerin und Referentin für nachhaltiges Leben auch in Vorträgen.

Minimalismus – wer ihn praktiziert, ist bereit, sich materiell stark einzuschränken. Er möchte Alltagszwängen entkommen und dadurch zu einem selbst bestimmten, erfüllten Leben finden. Und oft spielt, wie bei Birgitta Bolte, Nachhaltigkeit eine Rolle. Der Durchschnittsdeutsche besitzt rund 10 000 Gegenstände. Was davon braucht man wirklich? Sicher nicht die Ersatz-Knoblauchpresse in der übervollen Küchenschublade. Den alten Schallplattenspieler auf dem Dachboden. Und all die Staubfänger: Nippes, Accessoires, Dekoratives ohne Gebrauchswert.

Birgitta Bolte
Birgitta Bolte ist Referentin für nachhaltiges Leben. Foto: privat

Brauche ich das wirklich? Birgitta Bolte sagt, diese Frage gehe nicht tief genug. Weil die Antwort darauf immer lauten werde: „Klar, brauche ich, weil es schön ist und mir gefällt.“ Sie setzt stattdessen Nachhaltigkeitskriterien an: Woher kommt das Stück? Wer hat es produziert? Handelt es sich tatsächlich um Bio-Baumwolle? „Wenn ich das alles berücksichtige, fallen die meisten Dinge weg.“ Außerdem: „Von hochwertiger, zertifizierter Kleidung kann ich mir sowieso nicht viel kaufen, denn die ist – zu Recht – teurer.“

Minimalismus liegt im Trend. Nur besitzen, was man nutzt, nur behalten, was langfristig gefällt – eine klare Gegenbewegung zum Materialismus unserer Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die uns suggeriert, dass mehr Geld, mehr Kleider, mehr Konsum auch für mehr Zufriedenheit sorgen. Wir haben verlernt, zu wissen, wann es genug ist. Und „genug“ könne erstaunlich wenig sein, erklärt Birgitta Bolte. Dafür habe sie jetzt mehr Zeit, sich auf Wesentliches zu konzentrieren: Freunde zu treffen, Sport zu machen, etwas mit der Familie zu unternehmen, zu lesen. Das sei Glück.

Mit weniger glücklich zu sein, ist jedoch keine Idee des 21. Jahrhunderts. Das einfache Leben lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen: Der griechische Philosoph Diogenes von Sinope (405 bis 320 vor Christus) gilt als Vorreiter der Minimalistenbewegung. Er lebte der Legende nach in den Säulengängen Korinths oder wahlweise in einem Fass, er besaß einen Wollmantel, einen Rucksack mit Proviant sowie einen Stock. Auch Jesus, könnte man sagen, war überzeugter Minimalist. Er lehrte die Menschen, alles zu verkaufen und den Erlös den Armen zu geben, und er forderte seine Jünger auf, ihr Leben nicht mehr auf materiellen Besitz, Karriere oder andere egozentrische Ziele auszurichten. 

Ich habe noch nie verstanden, warum es eine Plastiktüte braucht, um Bananen zu transportieren

Schon seit Jahrtausenden verzichten auch Ordensleute auf Besitz, um sich dem Leben mit Gott zu widmen. „Minimalismus heißt für mich, offen für Gott zu bleiben“, sagt Schwester M. Rita Niehaus, Missionsschwester vom heiligen Namen Marien in Osnabrück. Heraus aus dem sicheren Leben einer Beamtin in der Kreisverwaltung hat sie sich vor rund 20 Jahren eingelassen auf das Abenteuer einer Gottsuche in einer Ordensgemeinschaft. Ihren Besitz brachte sie ins Kloster ein, alles wird gemeinschaftlich verwaltet und geteilt. „Ich kann nicht unmittelbar über Geld verfügen“, erklärt Schwester M. Rita, „aber das, was ich zum Leben brauche, bekomme ich. Es ist ja nicht so, dass ich ohne Geld in der Tasche auf Dienstreise gehe.“

Manchmal gibt es schon Situationen, in denen ihr der Verzicht schwerfällt. Das bekennt sie ganz offen. Aber meistens verhilft er ihr zu großer Freiheit. „Ich muss mich nicht um Haus und Hof kümmern und muss auch nicht das modernste Handy haben oder den neuesten Laptop; ich bin froh, dass mein elf Jahre alter Laptop noch funktioniert.“

Schwester M. Rita Niehaus
Auch Schwester M. Rita Niehaus lebt Verzicht: im Kloster. Foto: privat

Birgitta Bolte stieß 2017 auf der Suche nach einer Idee für die Fastenzeit auf den Begriff Plastikfasten. Plastikfrei einkaufen, nach Alternativen schauen – das klappte gut. Die Familie war begeistert und blieb dabei. Der nächste Schritt war Zero Waste, was bedeutet, im Haushalt generell wenig Müll zu produzieren. Ihre Gelbe Tonne teilt sich Familie Bolte mit den Nachbarn. Sie kauft Lebensmittel im Bio-Laden, im Unverpackt-Laden und auf dem Markt. „Ich habe noch nie verstanden, warum es eine Plastiktüte braucht, um Bananen zu transportieren“, sagt Birgitta Bolte. Milchprodukte gibt es in Pfandgläsern, Wurst und Käse von der Frischetheke werden in einer mitgebrachten Dose transportiert.

Es sei eine „absolute Erleichterung“, dass im Haus jetzt weniger herumsteht, sagt Birgitta Bolte und nennt ein Beispiel: „Früher hatten wir ein Shampoo für die jüngere Tochter, eines für die große, eines für meinen Mann und eines für mich. Inzwischen gibt es nur noch ein festes Shampoo-Stück für uns Damen, mein Mann wäscht seine kurzen Haare nur mit Wasser.“

Beim Minimalismus ist der Weg das Ziel – jedenfalls für Birgitta Bolte. Regelmäßig wird ausgemistet. „Das ist wie ein Muskel, den man trainieren kann“, sagt sie und lacht. Einfachheit und Leere – das genießt sie. „Ich möchte mich wohlfühlen.“ Und das geht nicht in einem vollgestopften Wohnzimmer. 

In unserer materialistischen und hektischen Zeit müssen Dinge oft Inhalte ersetzen. Schwester M. Rita praktiziert das Gegenteil. Einmal im Monat legt sie die Arbeit beiseite – einen halben Tag lang. Nicht, um ihren Hobbys nachzugehen, sondern um freie Zeit zu haben für Gott. Und einmal im Jahr verbringt sie eine Woche im Schweigen, ganz reduziert. „Dann denke ich darüber nach: Was will Gott mit meinem Leben? Wo fordert er mich heraus?“ Dieser Minimalismus, sagt Schwester M. Rita, „führt zu einem Mehr – weil er mir hilft, an den Kern meines Lebens zu kommen“.
 

Anja Sabel