Theologin Claudia Paganini über neue Herausforderungen der Religiosität

Ist KI der neue Gott?

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Karikatur
Nachweis

Thomas Plaßmann

Künstliche Intelligenz beantwortet Alltagsfragen, erkennt Krankheiten, plant Urlaubsreisen. Sie ist scheinbar allwissend und jederzeit verfügbar. Die Theologin Claudia Paganini sagt: Immer mehr Menschen halten sie für göttlich. Und sie erklärt, wie Gläubige gut damit umgehen können.


Viele Menschen fragen, wenn sie Rat suchen, nicht ihren Partner, ihre Kollegin, ihren Arzt. Sondern ChatGPT. Wie kann ich einen Fleck aus meiner Hose entfernen? Über welches Geburtstagsgeschenk könnte meine Mutter sich freuen? Warum ist der Himmel blau? Wie werde ich meine Schlafprobleme los? Wie löse ich einen Konflikt? Egal, um welches Problem es geht: Die Künstliche Intelligenz, kurz KI, kennt die Lösung. Und sie wird von Tag zu Tag besser. Schon jetzt ist sie Menschen bei vielen, vor allem komplexen Themen himmelhoch überlegen.

Claudia Paganini
Claudia Paganini. Foto: Studio Matphoto

Kein Wunder, dass die Innsbrucker Theologin Claudia Paganini sagt: „KI hat das Potenzial, von vielen Menschen als ein neuer Gott gesehen zu werden.“ Sie hat zu dieser These ein Buch geschrieben, und sie ahnt, manche Christinnen und Christen könnten sich davon provoziert fühlen. Weil sie ohnehin schon darunter leiden, dass der Glaube in unserer Gesellschaft schwindet. Und jetzt soll KI, diese unheimliche Macht aus dem Internet, auch noch unserem Gott Konkurrenz machen?

„Ich verstehe, dass das Thema mit vielen Ängsten besetzt ist, weil die Religion für viele Menschen eine wichtige Stütze ist“, sagt Paganini. Aber ihre These könne eine Chance sein, über die eigene Religiosität nachzudenken und sich zu fragen: „Wie reif und wie frei ist mein Gottesglaube? Welche Erwartungen habe ich an Gott? Bin ich wirklich bereit, Gott als Gegenüber zu akzeptieren, das seine eigenen Entscheidungen trifft? Oder ist Gott für mich nur ein Mittel zum Zweck, um meine Bedürfnisse zu befriedigen?“

„Kein Arzt kann so genau diagnostizieren wie KI“

In ihrem Buch zählt Paganini neun zentrale Eigenschaften auf, die Menschen immer den Göttern zugeschrieben haben: Einzigartigkeit, Allgegenwart, Allwissenheit, Allmacht, Transzendenz, Nahbarkeit, Gerechtigkeit, Sinnstiftung und Fürsorge. Sie erklärt detailliert, warum Menschen all diese Eigenschaften auch der KI zuschreiben. 

Die Allwissenheit der KI, sagt Paganini, sähen Menschen zum Beispiel in der Medizin: „Kein Arzt und keine Ärztin kann so genau diagnostizieren und prognostizieren wie KI. Keiner kann so differenziert und komplex alle weltweit verfügbaren Daten zueinander in Beziehung setzen und daraus Schlüsse ableiten wie sie.“ 

„KI könnte den Relevanzverlust von Religion weiter beschleunigen“

Die Allgegenwart der KI erlebten wir Tag für Tag, denn wir seien umgeben von immer mehr KI-gestützten Anwendungen: intelligente Lichtschalter, intelligente Automobile, Smartphones, Fitness-Armbänder. Paganini sagt: „Unser ganzer Alltag ist durchdrungen von KI – so wie man sich als religiöser Mensch vorstellt, dass die ganze Welt von Gott durchdrungen ist. Die KI ist ein Gott in allen Dingen. Und wir können uns immer an diesen Gott wenden.“ Die KI ist dann sofort für uns da und beantwortet unsere Fragen, ob mittags um zwölf oder nachts um drei. 

Damit habe sie gegenüber den herkömmlichen Göttern einen großen Vorteil, sagt Paganini: „Denn in der Religion können wir uns die spirituelle Erfahrung nicht einfach auf Knopfdruck verschaffen, sondern wir müssen beten und hoffen, dass wir dann irgendwann eine göttliche Antwort wahrnehmen.“ Viele Menschen wollten heutzutage, dass ihre Bedürfnisse jederzeit augenblicklich befriedigt werden, erklärt die Theologin. Diese Menschen könnten die KI für attraktiver halten als unseren Gott.

Und die Gerechtigkeit? Paganini sagt: „Viele hoffen, dass KI in Zukunft gerechtere und bessere Entscheidungen treffen kann als Menschen – weil sie frei ist von menschlichen Begrenzungen, Vorurteilen und Launen und weil sie sich nicht beeinflussen lässt vom Streit mit dem Partner oder dem Ärger im Job.“ Schon heute ließen große Firmen, die viele Bewerber haben, die KI die Kandidaten vorsortieren.

Wenn nun aber, wie Paganini denkt, immer mehr Menschen die Künstliche Intelligenz als gottähnlich empfinden, was heißt das dann für die Bedeutung des Glaubens in unserer Gesellschaft? „KI könnte den Relevanzverlust von Religion weiter beschleunigen“, sagt die Theologin. 

Sie versteht, dass es besonders gläubigen Menschen schwerfällt, sich das vorzustellen. Aber sie betont, es lohne sich, die Frage zu stellen: Könnte KI den Religionen, die wir derzeit kennen, Konkurrenz machen oder sie sogar ablösen? Wer sich darauf einlasse und seinen Glauben dadurch kritisch reflektiere, könne viel gewinnen. Und wen ihre Thesen zu sehr irritierten, der könnte mit seinem Pfarrer oder in seinem Bibelkreis darüber sprechen, sagt Paganini: „Ein gemeinsames Nachdenken über den eigenen Glauben könnte dabei helfen, dass dieser Glaube reift.“

Andreas Lesch

Buch Paganini

Buchtipp

Claudia Paganini: Der neue Gott. Künstliche Intelligenz und die menschliche Sinnsuche. Herder, 192 Seiten, 20 Euro





Papst Leo ist skeptisch

Papst Leo XIV. hat sich sehr pessimistisch über die Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz auf die Zukunft der Menschheit geäußert. In einem Interview mit dem US-Portal „Crux“ warnte er: „Es wird sehr schwer werden, die Gegenwart Gottes in KI zu entdecken. In menschlichen Beziehungen können wir wenigstens Zeichen seiner Gegenwart finden.“ Wenn die Kirche und andere Kritiker nicht ihre Stimme erhöben, bestehe „die Gefahr, dass die digitale Welt ihren eigenen Weg geht und wir nur noch die Bauern auf dem Schachbrett sind oder am Wegesrand liegen gelassen werden“.