100. Geburtstag Dom- und Diözesanmuseums in Mainz

„Kunst, die etwas zu sagen hat“

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Ein Mann in einem schwarzen Pullover und Brille steht vor einer Vitrine und hält ein Buch in der Hand
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Foto: Anja Weiffen

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Winfried Wilhelmy, Jahrgang 1962, ist seit 14 Jahren Direktor des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums in Mainz. Wilhelmy studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie sowie Neuere und Neueste Geschichte in Trier und Bochum und promovierte 1990.

Säkulare Zeiten – was machen die mit einem kirchlichen Museum? Interessieren sich Menschen heute noch für die christliche Vergangenheit? Ja, sagt Winfried Wilhelmy, Direktor des Dom- und Diözesanmuseums in Mainz. Zum 100. Geburtstag des Museums ein Gespräch über die Faszination von Geschichte.

Herr Wilhelmy, ist die Kirche ein Fall fürs Museum?

Kirche im Museum – das klingt irgendwie verstaubt, als wenn man die Kirche in eine Schublade steckt und ab und zu mal reinschaut. So funktioniert aber weder Kirche noch Museum. Wir haben Kunst, die ist schön anzusehen; die hat aber auch etwas zu sagen und Werte zu vermitteln.

Wie funktioniert das?

Wir haben hier in Mainz ja den Bistumspatron, den heiligen Martin. Ein Heiliger auf einem Pferd, einem Tier: Das ist für Kinder sehr interessant; aber vor allem auch der Gedanke des Teilens. Das lässt sich gut darstellen. Das kommt auch bei Eltern gut an. Unsere museumspädagogische Werkstatt floriert; da haben wir manchmal sogar zu wenig Personal für die Nachfrage.

Mainz hat den Dom, hat St. Stephan mit den berühmten Chagall-Fenstern und mehr. Ist das nicht schon Museum genug?

Dom und St. Stephan sind zunächst Kirchen, also Gotteshäuser, die gleichwohl auch kunsthistorisch Interessantes bieten. Im Museum sind wir zudem aber auch Herberge für Dinge, die nicht vor Ort bleiben können: aus konservatorischen Gründen oder zum Schutz vor Vandalismus und mehr. Wir sind so etwas wie eine begehbare Sakristei.

Wie meinen Sie das?

Viele Objekte werden immer mal wieder, etwa zu Feiertagen, aus dem Museum geholt und dann im Gottesdienst verwendet: ein Kelch oder Bischofsstab oder ein Messgewand. Wir unterscheiden uns auch deshalb von einem normalen Museum.

Verschiedene Skulpturen und Gemälde sind in einem Gang mit hohen Decken ausgestellt
Ein Blick in die heutigen Ausstellungsräume im Obergeschoss des Kreuzgangs. Foto: Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseums Mainz

Inwiefern noch?

Das Bistum Mainz war schon immer ein eminent politisches Bistum. Das spiegelt sich auch in unseren Beständen wider: Das hängt damit zusammen, dass der Mainzer Erzbischof früher auch Kurfürst war; oder denken Sie an den Sozialbischof Ketteler. Es ließe sich fortsetzen bis zu Kardinal Lehmann und der Frage nach der kirchlichen Schwangerschaftskonfliktberatung. Darüber hinaus ist aber auch Glaubensvermittlung im weitesten Sinne unser Auftrag. Das kommt nicht mit dem Holzhammer, sondern zeigt sich durch den konkreten sozial-karitativen Aspekt, etwa durch den heiligen Martin, Bischof Ketteler und andere.

Gibt es eine Epoche, die Ihnen besonders nah ist?

Ich bin Mittelalterspezialist. Da sind Fragen: Wie haben sich Menschen während der Pest-Pandemie verhalten? Wie hat sich das Arbeitsleben für Frauen verändert? Da kann man auch viel für die heutige Zeit ablesen. In der Dauerausstellung im Museum zeigen wir aus Platzgründen nur die Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Aber das 19. und 20. Jahrhundert kommen in besonderen Besucherveranstaltungen vor; da holen wir die Objekte aus dem Depot. Mir ist wichtig, dass die Besucher den Kontakt zu den Originalen haben – und diese zum Teil sogar anfassen können. Dann bekommt man ein ganz anderes Gespür für Geschichte, als wenn man das nur im Internet anschaut.

Was kommt bei Besuchergruppen am besten an?

Eine besondere Faszination üben immer die Reliquien aus. Da kann man auch viel erklären, was über die Frage nach der Echtheit hinausgeht: der Wunderglaube der damaligen Zeit, die Frage nach Krankheit und die Hoffnung auf Heilung, die Nähe zu einer Person über den Tod hinaus. Das lässt sich auch aus dem Religiösen ins Heute übertragen, wenn man an ein Fußballtrikot von Maradona denkt oder eine Haarlocke von Taylor Swift. Dann ist das auf einmal sehr lebendig.

Das erfordert aber ja auch viel Erklärung …

Genau, es reicht heute nicht mehr, einfach eine Vitrine aufzustellen und etwas zu zeigen. Ein besonderes Erlebnis hatte ich mit einer jungen Besucherin: Die freute sich über die „tolle Spiegelsammlung“ in der Schatzkammer. Sie war in der Ausstellung der Monstranzen, wusste aber nicht, was das ist. Ihr Eindruck war gar nicht dumm! So kamen wir in ein wunderbares Gespräch über die Spiegelung des Transzendenten, wenn die Hostie in die Monstranz eingestellt ist. Vermittlung ist das A und O. Dazu bräuchten wir noch viel mehr Personal, um diese Chance zu nutzen. Das Interesse ist da! Leider kämpfen wir da auch mit einer politisch verursachten Bürokratieflut und arbeitsrechtlichen Auflagen bei Aushilfen und Führungen, was es uns in den Museen sehr schwer macht. Das war früher einfacher.

Ist das vielleicht auch ein typischer Museums-Satz: Früher war alles besser?

Nein, ganz im Gegenteil. So sehr ich Mittelalterfan bin: Ich möchte da nicht leben. Mir ist es zum Beispiel auch wichtig, dass wir bei der aktuellen Ausstellung zum80. Jahrestag der Zerstörung von Mainz zeigen, wie furchtbar Krieg ist. Da machen wir eine bewusst hässliche Ausstellung mit nicht restaurierten Trümmern. Das regt zum Nachdenken an, denn solche Zerstörungen werden auch heute noch täglich in der Ukraine, im Kongo, in Gaza „produziert“. Die Reaktionen der Besucher auf der Pinnwand am Ausgang sind eindeutig: Nie wieder Krieg! Wenn das ein 15-Jähriger schreibt, dann berührt mich das sehr.

Wo sehen Sie künftig den Auftrag Ihres Museums?

Wir wollen Themen angehen, die die Menschen unmittelbar berühren: Krieg, Frieden, Leid, Krankheit, Hunger. Aber auch die Freude: die Freude am Evangelium und am Paradies. Also urmenschliche Themen, die offen sind für das Transzendente: eine nachdenkliche Freude – das ist mir wichtig.

Interview: Michael Kinnen